Der Sommer der toten Puppen
alles zu umfassen.
Gina fingerte an der Computermaus. Ging ihre Mutter denn nie? Sie löste sich sanft aus ihrer Umarmung und spielte den letzten Trumpf aus.
»Schon gut, kauf ihn mir nicht. Ich habe dieses Jahr sowieso keine Lust, an den Strand zu gehen ...«
»Natürlich gehst du an den Strand. Dein Vater kommt morgen von seiner Werbetour zurück, und nächste Woche fahren wir nach Llafranc. Nicht umsonst habe ich mir diesen Monat Urlaub genommen.« Es war Reginas Art, durch die Hintertür daran zu erinnern, wie viel sie für die anderen tat. »Ich halte Barcelona in diesem Sommer nicht mehr aus! Die Hitze ist unerträglich.« Unauffällig schaute sie auf die silberne Armbanduhr, es wurde schon spät. »Ich gehe jetzt, oder mir bleibt am Ende nicht genug Zeit für alles«, worauf sie lächelte. »Vor fünf bin ich wieder da. Wenn die von der Polizei früher kommen, sag nichts.«
»Darf ich ihnen denn die Tür aufmachen? Oder ist dir lieber, wenn sie auf der Straße warten?«, fragte Gina betont naiv. Sie konnte nicht anders, in diesen Tagen brachte ihre Mutter sie um den Verstand.
»Das ist nicht nötig. Ich werde da sein. Versprochen.«
Das Klacken ihrer Absätze hallte in der Wohnung wider. Gina wollte gerade das Fenster des Messengers aufrufen, als die Schritte hastig zurückkehrten.
»Habe ich hier vielleicht ...?«
»Hier ist der Autoschlüssel, Mama.« Sie nahm ihn vom Tisch, wo Regina ihn beim Umarmen hingelegt hatte, und warf ihn ihr zu, ohne sich vom Stuhl zu erheben. Ihre Mutter fing den Schlüssel auf. »Du solltest ihn dir um den Hals hängen.« Und als sie sicher war, dass ihre Mutter sie nicht mehr hören konnte, murmelte sie: »Dann kannst du ihn bald neu programmieren bei dem Gestank.«
Klick. Das kleine Fenster leuchtete wieder auf. Vier Nachrichten:
gi was is los?
hallo???
heyyy ich warte
gut dann bis bald!!! :-)
Nein, nein, nein, nein ... Scheiße, antworte, Aleix, bitte.
meine mutter war hier, ich konnte nicht.
eooo!! habs mir gedacht!! nervt sie immer noch??
Gina seufzte. Mehr als erleichtert. Sie tippte, so schnell sie konnte.
hat die polizei bei dir angerufen?
die bullen? wieso?
scheiße ... sie kommen heute zu mir, um 5, ich weiß nicht, was sie wollen, im ernst ...
Ein paar Sekunden Pause.
sicher nichts. das übliche. keine sorge
ich habe einen schreck bekommen ... und wenn sie mich fragen ...
sie werden nichts fragen. haben doch keine ahnung von nix
woher weißt du das?
weil ichs weiß. außerdem haben wir es am ende nicht getan. du erinnerst dich?
Gina legte die Stirn in Falten.
was meinst du damit?
Sie konnte sich Aleix’ verärgertes Gesicht vorstellen, dieses Gesicht, das er aufsetzte, wenn er sich genötigt sah, Dinge zu erklären, die für ihn sonnenklar waren. Ein Ausdruck, der sie manchmal – selten – irritierte und normalerweise beruhigte. Er war einfach klüger. Daran zweifelte niemand. Einen Wunderknaben von der Schule zum Freund zu haben hieß, mitleidige Blicke aushalten zu müssen.
wir hatten was vorgehabt aber nicht getan. ist nicht dasselbe oder? egal was wir geplant haben am ende haben wir gekniffen
marc hat nicht gekniffen.
Der Cursor blinkte in Erwartung, dass sie weiterschrieb.
gi WIR HABEN NICHTS GETAN
Die Großbuchstaben waren wie eine Anklage.
ja, du hast es verhindert ...
und hatte ich nicht recht? wir hatten es beide besprochen und waren einer meinung. wir mussten aufhören
Gina nickte, als könnte er sie sehen. Aber im Grunde wusste sie, dass sie keine bestimmte Meinung dazu hatte. Erst jetzt wurde es ihr auf einen Schlag bewusst, und sie verachtete sich selbst. Aleix hatte sie an dem Abend überzeugt, aber tief im Innern wusste sie, dass sie Marc gegenüber versagt hatte, versagt bei etwas, was für ihn sehr wichtig war.
den stick hast du noch oder?
ja.
ok. was meinst du soll ich heute nachmittag zu dir kommen? von wegen bullen
Gina wollte, aber in ihrem Stolz konnte sie es nicht zugeben.
nein, nicht nötig ... ich rufe dich später an.
kommen bestimmt auch zu mir ...
Sie wechselte das Thema.
übrigens, meine mutter hat das ausgehparfüm aufgelegt ;-)
hihi ... und mein vater kommt nicht zum essen!!!!
Gina lächelte. Das vermeintliche Abenteuer zwischen ihrer Mutter und Aleix’ Vater war ihnen eines langweiligen Nachmittags in den Sinn gekommen, als Marc in Dublin war. Sie hatten sich nie die Mühe gemacht, der Sache nachzugehen, aber mit der Zeit, und je öfter sie davon sprachen, war die Idee zumindest für sie zu einer absoluten
Weitere Kostenlose Bücher