Der Sommer der toten Puppen
vergessen schien, kam Marc eines Tages zu mir, hier in mein Arbeitszimmer. Er hat sich an den Tisch gesetzt, dort, wo Sie jetzt sitzen, und mich gefragt, wie ich ihm so etwas hätte zutrauen können.«
»Er selber hatte es zugegeben.«
»Das sagte ich ihm auch.« Er lächelte bitter. »Aber fast mit Tränen in den Augen fragte er mich: ›Glaubst du wirklich, dass ich das getan habe?‹ Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Als er wieder ging, dachte ich darüber nach. Und das Schlimmste war, dass ich zu keinem Schluss kam. Sehen Sie, Herr Inspektor, ich habe Ihnen nichts vorgemacht. Marc war faul, apathisch, verwöhnt. Aber genau deshalb denke ich manchmal, dass er nie in der Lage gewesen wäre, eine solche Niedertracht zu begehen. Er hätte sich vielleicht über den Jungen lustig gemacht, besser gesagt, hätte zugelassen, dass man sich über ihn lustig macht, aber ich glaube nicht, dass er jemanden so kaltblütig gedemütigt hätte. Das passte nicht zu ihm.«
»Sie denken, er hat für einen anderen die Schuld auf sich genommen?«
»So etwas in der Art. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich habe versucht, mit ihm zu sprechen, aber er blieb stur. Und wissen Sie was? Bei der Beerdigung habe ich mich immer wieder verflucht, weil ich ihm nicht einmal die Freude gemacht und gesagt habe, dass ich ihm eine solche Schandtat tatsächlich nicht zugetraut hätte.«
Héctor respektierte das nun folgende Schweigen. Er war vielleicht nicht einverstanden mit dem Mann, aber einen Teil von ihm, den verstand er gut. Für Enric Castells hatte alles im Leben einen Verantwortlichen, und er selbst hatte sich die Rolle des Schuldigen am Unfall seines Sohnes zugewiesen. Weshalb er jede Ermittlung ablehnte; für ihn hatte es keinen Sinn.
»Wissen Sie was, Herr Inspektor?«, fuhr Castells fort, nun noch leiser. »Als wir nach dem Fest frühmorgens den Anruf erhielten, wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert war. Ich glaube, alle Eltern fürchten das: einen Anruf in der Nacht, der dir dein Leben entzweischlägt. Irgendwie hatte ich es erwartet, hatte gebetet, es möge nicht passieren.« Héctor konnte ihn kaum hören, aber dann sprach sein Gegenüber auf einmal wieder normal. »Jetzt muss ich entscheiden, was ich mit meinem künftigen Leben anfange. Ich habe eine wunderbare Ehefrau und eine Tochter, für die ich sorgen und die ich schützen muss. Für mich ist es der Zeitpunkt, so manches zu überdenken.«
»Wollen Sie in die Politik gehen?«, fragte Salgado, der sich daran erinnerte, was Savall ihm gesagt hatte.
»Möglich, ja. Ich mag die Welt nicht, in der wir leben, Herr Inspektor. Sollen die Leute bestimmte Werte für hinfällig halten, aber sie zu ersetzen hat bisher noch keiner geschafft. Vielleicht ist das alles ja doch nicht so schlecht. Sind Sie ein religiöser Mensch?«
»Ich fürchte, nein. Aber sie kennen ja den Spruch: Im Schützengraben gibt es keine Atheisten.«
»Ein guter Satz. Er trifft es genau. Atheisten denken, wir kennten den Zweifel nicht, der Glaube sei ein Helm, unter dem wir nichts anderes sähen. Sie irren sich. Gerade in solchen Momenten erhalten die religiösen Überzeugungen ihren wahren Sinn. Man spürt, dass es eine Planke gibt, an der man sich festhalten kann, um weiter zu schwimmen, statt aufzugeben und sich fortreißen zu lassen. Auch wenn es das Einfachste wäre. Aber ich glaube nicht, dass Sie das verstehen.«
In seinen letzten Worten schwang etwas Verächtliches mit, was Héctor lieber überging. Er hatte nicht die Absicht, mit einem überzeugten Gläubigen, der gerade seinen Sohnverloren hatte, über Religion zu diskutieren. Castells wartete ein paar Sekunden, und als er sah, dass der Inspektor nicht auf ihn einging, wechselte er das Thema.
»Können Sie mir sagen, warum Sie Marcs Sachen mitnehmen wollen? Ist etwas dabei, was Ihnen nützlich sein könnte?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, Herr Castells.« Er betonte noch einmal den Umstand, dass auf dem T-Shirt Flecken waren, sowie seinen Verdacht, dass in der Nacht zwischen den Jugendlichen etwas passiert war. Er wollte der Sache keine größere Bedeutung beimessen, wusste aber, dass der Vater des Opfers ein Anrecht darauf hatte, informiert zu sein. »Was den Laptop betrifft, das Handy ... ich glaube nicht, dass es uns entscheidend weiterbringt, aber es wird uns bei den Ermittlungen helfen. Es ist dasselbe wie früher die Tagebücher: E-Mails, SMS, Anrufe. Ich bezweifle, dass etwas dabei ist, was den Hergang klärt, aber ein
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