Der Sommer der toten Puppen
Tages schon merken würde, dass aus der Zuneigung etwas anderes geworden war. Wie konnte sie nur so dumm sein. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Eifersucht zu verdrängen, sich ein Lächeln aufzuzwingen und den Hass hinter Bewunderung zu verbergen. »Ist sie nicht hübsch?« Natürlich war sie das. Hübsch, blond, Schlafzimmerblick. Eine blöde Renaissance-Madonna. Aber das Schlimmste an dem Foto, das Marc ihr gleich am Tag seiner Rückkehr zeigte, und das, wo sie ihm gerade gestanden hatte, wie sehr sie ihn vermisst habe, worauf er nur sagte: »Klar, Gi, ich dich auch« – ohne sie anzusehen, während er in der Mappe nach dem verdammten Foto suchte –, das Schlimmste war nicht, dass das Mädchen hübsch war; das Schlimmste, Schmerzvollste war, zu sehen, wie Marc das Bild betrachtete. Als wollte er es auswendig lernen, als spürte er, während er über das Papier strich, wie sanft ihr Haar war, als entdeckte er, wann immer er es anschaute, etwas Neues und Wunderbares in diesem Gesicht.
Zum Glück hatte sie das Foto an sich genommen. Es wunderte sie selbst, aber es war das Erste, was sie tat, als sie Marc verrenkt im Hof liegen sah. So würde es keiner von den Schnüfflern finden, wie diese Polizistin, die einen auf sympathisch machte und doch nur bestätigt sehen wollte, was sie schon ahnte. Dass Gina für Marc nicht gut genug war. Dass es ein anderes Mädchen gab. Dass sie für die Johannisnacht zum ersten Mal seit Jahren ihre Mutter gebeten hatte, ihr zu helfen, ein Kleid auszuwählen und sich zu schminken. Warum auch nicht? Diese Iris mochte schön sein, aber es warbloß ein Foto. Sie war nicht wirklich. Sie war nicht da. In gewisser Weise war sie nicht einmal lebendig. Sie selber sehr wohl.
Sie nahm das Foto aus der Schublade und legte es auf die Tastatur. Am liebsten hätte sie es verbrannt, aber sie hatte kein Feuerzeug zur Hand, also begnügte sie sich damit, es mit der Schere zu zerschneiden: zuerst mittendurch, auf Höhe der Nase, dann in immer kleinere Stücke, bis es aussah wie ein Puzzle mit Hunderten von Teilen, so winzigen, dass nichts mehr auf ihnen zu erkennen war.
13
Wenn das Büro eines Menschen der Spiegel seiner Persönlichkeit ist, dann war Enric Castells ein organisierter und nüchterner Zeitgenosse. Sein Arbeitszimmer hätte der Schauplatz für einen Anwaltsfilm mit Michael Douglas sein können, dachte Héctor, während er auf dem strengen, aber bequemen schwarzen Lederstuhl Platz nahm und darauf wartete, dass sein Gastgeber ihm sagte, worüber er mit ihm sprechen wollte.
Señor Castells nahm sich Zeit; er ließ vorsichtig das Rollo herunter, zog seinen Stuhl zurück, und nachdem er sich an den Tisch gesetzt hatte, eine Glasplatte auf Aluminiumbeinen, schob er ein altes, glänzend schwarzes Telefon ein paar wenige Millimeter weiter an die Kante. Héctor fragte sich, ob das eine einstudierte Choreografie war, um sein Gegenüber in die Ungeduld oder die Verwirrung zu treiben, aber Castells’ Miene deutete auf große Konzentriertheit, auf Sorgen, die man nur schwer vortäuschen konnte. Er musste einmal ein attraktiver Mann gewesen sein, bevor die Jahre und die Verantwortung einen bitteren Zug um seine feinen Lippen legten, leicht nach unten gezogene, ewige Unzufriedenheit ausstrahlende Lippen, die seinem Gesicht etwas Unschönes gaben. Seine Augen waren klein und von einem verwaschenen, müden Blau, das ins Gräuliche schwand.
Plötzlich atmete Enric Castells hörbar aus und lehnte sich zurück. Für einen Moment entspannten sich seine Züge und zeigten das Gesicht von jemandem, der jünger war, unsicherer; dem jungen Marc entschieden ähnlicher.
»Heute Nachmittag habe ich mit meiner ehemaligen Frau gesprochen.« Erneut war der Verdruss in sein Gesicht zurückgekehrt. »Ich bedaure, es sagen zu müssen, aber ich glaube, sie ist verrückt. Andererseits war das zu erwarten.«
»Ja?« Héctor hielt sich strikt an seine Technik, so wenig wie möglich zu sprechen. Ohnehin wusste er nicht recht, was er dem hätte hinzufügen sollen.
»Inspektor Salgado«, fuhr Castells in knappem Ton fort. »Ich weiß, dass sich in den letzten Jahren manches verändert zu haben scheint. Aber es gibt Dinge, die der menschlichen Natur schlicht widersprechen. Sein Kind zu verlassen, wenn es noch nicht einmal angefangen hat zu laufen, gehört dazu. Und niemand wird mir einreden, ein solches Verhalten fordere nicht früher oder später seinen Preis. Zumal wenn eine Tragödie passiert, wie wir sie haben
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