Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
Vom Netzwerk:
erleben müssen.«
    Héctor überraschte der Groll, der aus seinen Worten sprach. Er fragte sich, ob er immer schon da gewesen war oder erst jetzt wieder aufbrach, nach dem Tod ihres gemeinsamen Sohns. Für Castells schien es tröstlich zu sein, sich einem Hass hinzugeben, den er aus seinem Herzen nicht verbannen konnte.
    »Was ich Ihnen damit sagen will: Ich werde es nicht dulden, dass die Verdächtigungen einer Neurotikerin meiner Familie Schaden zufügen. Einen noch größeren, als wir ihn schon zu beklagen haben.«
    »Ich verstehe Sie, Herr Castells. Und ich verspreche Ihnen, dass wir Ihren Schmerz achten, soweit es uns möglich ist. Aber zugleich müssen wir«, und Héctor schaute seinem Gegenüber sehr ernst in die Augen, »unsere Arbeit tun. Gewissenhaft.«
    Castells hielt seinem Blick stand. Er taxierte ihn. Héctor war verärgert, seine Geduld ging zu Ende. Doch bevor er etwas hinzufügen konnte, fragte Castells:
    »Haben Sie Kinder, Herr Inspektor?«
    »Einen Sohn.«
    »Dann wird es Ihnen leichter fallen, mich zu verstehen.«
    Wohl kaum, dachte Héctor, doch Castells sprach schon weiter.
    »Ich habe meinen Sohn erzogen, so gut ich konnte. Aber im Leben muss man zu seinen Misserfolgen stehen.«
    »Marc war ein Misserfolg?«
    »Er nicht. Ich, als Vater. Ich habe mich von modernen Theorien überzeugen lassen, habe eingesehen, dass die Abwesenheit der Mutter für ihn etwas war, was er nicht verwinden konnte, was seine Apathie rechtfertigte, seine ... Mittelmäßigkeit.«
    Héctor fühlte sich auf eine Weise angesprochen, dass es ihm schwerfiel, noch zu folgen.
    »Sie sehen mich an, als wäre ich ein Monstrum, Herr Inspektor. Aber glauben Sie mir, ich habe meinen Sohn immer geliebt, so wie Sie den Ihren. Ihm habe ich nichts vorzuwerfen, nur mir. Ich hätte in der Lage sein sollen, zu verhindern, dass so etwas passiert. Ich weiß schon, Sie denken jetzt, Unfälle sind Schicksal, und ich will es nicht abstreiten. Aber ich werde auch nicht in die Falle tappen und mich wie alle Welt der Verantwortung entziehen: Junge Leute trinken nun mal, junge Leute machen Unsinn; Jugend heißt, dass dein Sohn macht, was er will, dass du stillhältst und wartest, bis es vergeht wie eine Grippe. Nein, Herr Inspektor. Unsere Generation hat sich in Vielem geirrt, und jetzt müssen wir für die Folgen zahlen. Wir und unsere Kinder.«
    Salgado sah nun den Schmerz. Er war da, ein so echter, wie ihn eine in Tränen aufgelöste Mutter empfinden mochte. Enric Castells weinte zwar nicht, litt aber nicht weniger.
    »Was glauben Sie, was passiert ist«, fragte er leise.
    Enric Castells brauchte eine Weile, ehe er antwortete. Als müsste er sich einen Ruck geben, um es auszusprechen.
    »Gut möglich, dass er gestürzt ist. Das streite ich nicht ab.Aber bei Unfällen ist Fahrlässigkeit im Spiel, Gleichgültigkeit.«
    Héctor pflichtete ihm bei.
    »Ich glaube nicht, dass Marc den Mut besaß oder auch nur Gründe hatte, sich umzubringen, wenn es das ist, was Sie denken. Und was Joana anscheinend fürchtet, auch wenn sie es nicht sagt. Allerdings glaube ich, dass er leichtsinnig und unüberlegt genug war, um eine Dummheit zu begehen. Einfach so. Um das Mädchen zu beeindrucken oder sich männlicher zu fühlen. Oder weil es ihm egal war. Sie sind schon fast zwanzig und spielen weiter, als wären sie Kinder, als gäbe es keine Grenzen. Alles ist egal, alles ist gut, denk nur an dich. Das ist die Botschaft, die man ihnen vermittelt.«
    »Ich verstehe, was Sie meinen, aber wie es aussieht, ist Marc reifer aus Dublin zurückgekehrt ... oder nicht?«
    Castells nickte.
    »Das dachte ich auch. Er schien erwachsener zu sein, ein klares Ziel im Leben zu haben. Zumindest sagte er das. Aber ich hatte gelernt, dass man bei ihm warten musste, bis den Worten Taten folgten.«
    »Hat er gelogen?«
    »In gewisser Weise schon. Nehmen Sie nur den Schulverweis, die Geschichte mit dem Video, das er ins Internet gestellt hat.«
    »Ach ja?«
    »Zuerst dachte ich, es sei ein weiteres Zeichen für die um sich greifende Respektlosigkeit, den Mangel an Feingefühl, die allgemeine Schamlosigkeit. Auf beiden Seiten: aufseiten des Jungen, der sich an einem öffentlichen Ort befriedigt, und aufseiten dessen, der es mit der Kamera aufnimmt und mit der ganzen Welt teilt. Widerlich von vorn bis hinten.«
    Auch wenn er hier einen qualitativen Unterschied sah, sagte Salgado nichts und wartete; Castells war noch nicht fertig.
    »Doch als alles vorbei war, als die Sache schon

Weitere Kostenlose Bücher