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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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Blick kann nicht schaden.«
    »Ich fürchte, der Laptop wird Ihnen kaum weiterhelfen ... Er ist kaputt.«
    »Kaputt?«
    »Ja. Ich vermute, er ist auf den Boden gefallen. Allerdings habe ich es erst vier oder fünf Tage später bemerkt.«
    Enric Castells schien auf einmal nervös zu werden, er stand von seinem Stuhl auf und erklärte damit das Gespräch für beendet. Gleichwohl wandte er sich, schon an der Tür, noch einmal an den Inspektor.
    »Dann nehmen Sie die Sachen meines Sohnes mit. Ich bezweifle, dass sie Ihnen eine Antwort geben, aber nehmen Sie sie.«
    »Sie erhalten sie so bald wie möglich zurück. Mein Wort.«
    In Castells’ Blick lag eine leise Empörung.
    »Es sind nur Gegenstände, Herr Inspektor«, sagte er kühl.»Falls Sie noch etwas benötigen, möchte ich Sie bitten, sich mit mir in meinem Arbeitszimmer zusammenzusetzen. Glòria ist sehr besorgt wegen Natàlia. Sie ist noch klein, aber sie bekommt alles mit. Sie hat nach ihrem Bruder gefragt, und es ist sehr schwer, ihr in diesem Alter das Geschehen auf eine Weise zu erklären, dass sie es versteht.«
    Héctor bedeutete ihm Zustimmung und folgte ihm auf den Flur. Castells ging voran, mit durchgedrücktem Rücken und breiten Schultern. Indem er über die Schwelle trat, war jeder Hauch von Schwäche verflogen. Er war wieder der Herr des Hauses: standfest, ausgeglichen, selbstsicher. Eine Rolle, sagte sich Héctor, die anstrengend sein musste.
    Leire saß derweil im Wohnzimmer und beobachtete, wie Natàlia vor dem ausdauernd bewundernden Blick ihrer Mutter eine Zeichnung nach der anderen anfertigte. Pater Castells war gegangen, nachdem Enric und der Inspektor sich in das Arbeitszimmer im ersten Stock zurückgezogen hatten, und nach der Beschlagnahmung des befleckten T-Shirts hatte Leire sich auf einen Stuhl gesetzt und darauf gewartet, dass die beiden wieder herunterkamen. Für einen Moment stellte sie sich vor, sie selber würde so dahocken, zuhause eingesperrt an einem Nachmittag im Sommer, und die künstlerischen Fortschritte eines kleinen Jungen oder Mädchens verfolgen, und bei dem Gedanken grauste ihr. Seit sie am Abend zuvor den unseligen Test gemacht hatte, versuchte sie nun schon zum x-ten Mal, sich mit einem Baby im Arm vorzustellen, aber ihr Gehirn schaffte es nicht, das Bild hervorzubringen. Nein, Menschen wie sie hatten keine Kinder. Das und finanzielle Unabhängigkeit waren die Grundlage eines Lebens, wie sie es verstand. Wie sie es mochte. Und nur weil sie einmal nicht aufgepasst hatte, geriet ihre ganze Zukunft ins Wanken.Immerhin, sagte sie sich mit einer kleinen Genugtuung, war der Typ es wert gewesen ... Dummerweise gehörte er nicht zu den Cola-Cao-Jungs und schätzte die Freiheit so wie sie. Eine relative Freiheit, dachte sie, da seine Arbeit ihn quer über den Kontinent hetzte.
    »Guck mal.« Das Mädchen war herbeigekommen und zeigte ihr das jüngste Werk, ein für Leire unentzifferbares Gekleckse. »Das bist du«, erklärte sie.
    »Oh. Und das ist für mich?«
    Als Natàlia zögerte, sprach ihre Mutter für sie:
    »Aber natürlich. Du schenkst es ihr, nicht wahr?«
    Leire streckte die Hand aus, aber das Mädchen konnte sich nicht entschließen, das Bild herzugeben.
    »Nein«, sagte sie. »Ein anderes.« Und sie rannte zum Tisch und holte ein anderes ihrer Kunstwerke. »Das hier.«
    »Oh, vielen Dank. Und was ist das?«, fragte Leire, auch wenn es in dem Fall sehr klar war.
    »Ein Fenster. Nucki ist böse.«
    Glòria Vergés ging zu ihrer Tochter. In ihrem Blick lag tiefe Sorge.
    »In letzter Zeit kommt sie andauernd damit«, flüsterte sie der Polizistin zu. »Ich nehme an, sie hat das Gefühl, er ist böse, weil er nicht da ist.«
    »Böse«, sagte Natàlia noch einmal. »Böser Nucki.«
    »Schon gut, mein Schatz.« Ihre Mutter bückte sich und strich ihr über das glatte, glänzende Haar. »Warum holst du nicht deine Puppe? Ich bin sicher, dass ...«
    »Leire.«
    »… dass Leire sie gerne kennenlernen möchte.« Sie warf der Beamtin ein entschuldigendes Lächeln zu, und das Mädchen gehorchte prompt.
    »Tut mir leid«, sagte Leire. »Es muss sehr schwierig für sie sein. Für alle.«
    »Es ist furchtbar. Und keiner weiß, wie man es ihr erklären soll. Enric ist der Ansicht, man muss ihr die Wahrheit sagen, aber ich kann nicht ...«
    »Hatte sie ein sehr enges Verhältnis zu ihrem Bruder?«
    Glòria zögerte.
    »Das würde ich gerne sagen, aber ich fürchte, der Altersunterschied war zu groß. Marc hat sie praktisch

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