Der Sommer der toten Puppen
freundlichen, neutralen und zugleich unmissverständlichen Bericht, der die Dame davon überzeugte, dass ihr Sohn aus dem Fenster gefallen war. In einem Ton, wie ein Lehrer ihn vor einem Schüler anschlagen würde, der die Prüfung um ein Haar verpatzt hat: Sie können erhobenen Hauptes gehen, denn Sie sind mehr als ehrenwert gescheitert ... Kommen Sie im September wieder, dann werden Sie sicher bestehen. Im Fall von Joana Vidal: Gehen Sie und kommen Sie am besten nicht wieder. Aber irgendetwas sagte ihm, dass diese Frau, die mit übergeschlagenen Beinen dasaß und sich an die Armlehnen klammerte, ein Ass im Ärmel hatte. Eine Bombe, die sie zu gegebener Zeit zünden würde und die sie alle aus heiterem Himmel erwischte.
»Selbstverständlich«, sagte er schließlich und schwieg erneut, wägte seine Worte. »Aber vielleicht hat Frau Vidal uns zunächst selber etwas zu erzählen.«
Der rasche Blick der Frau zeigte ihm, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Savall zog die Augenbrauen hoch.
»Ist das so, Joana?«, fragte er.
»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht. Aber zuerst möchte ich hören, was Inspektor Salgado mir zu sagen hat.«
»Sehr gern.« Na endlich, dachte Héctor, als er sah, wie die Dame neben ihm sich ein wenig entspannte. Er drehte seinen Stuhl, so dass er ihr ins Gesicht sehen konnte, und sprach zu ihr, als wäre der Kommissar nicht im Raum. »Nach allem, was wir wissen, haben in der Johannisnacht Ihr Sohn und zwei Freunde, Aleix Rovira und Gina Martí, in Marcs Dachkammer eine kleine Party gefeiert. Ihre Berichte stimmen im großen Ganzen überein: Der Abend verlief völlig normal, bis Marc aus irgendeinem Grund die Laune verlor, die Musik ausmachte und sich mit Aleix stritt, der ihm vorwarf, seit seiner Rückkehr aus Dublin sei er ein anderer Mensch. Aleix ging nachhause, aber Gina, die einiges getrunken hatte, blieb über Nacht, im Zimmer von Marc. Dessen schlechte Laune hatte auch sie zu spüren bekommen, denn als Aleix ging, schickte er sie ins Bett, sie sei betrunken, was das Mädchen ziemlich getroffen hat. Aber sie hat sich hingelegt und ist sofort eingeschlafen. Marc blieb allein in der Dachkammer und tat das Übliche: im Fenster sitzend eine letzte Zigarette rauchen.«
An dieser Stelle hielt er inne, auch wenn die Miene seines Gegenübers nur Konzentration verriet. Keinen Kummer, keinen Schmerz. Joana Vidals Gesichtszüge hatten etwas Nordisches, eine Kälte, die eine Maske sein konnte oder auch nicht.Aber es war eine Maske, dachte Héctor, auch wenn es eine war, die sie seit langem trug und die schon mit ihren natürlichen Zügen verschmolz. Nur ihre Augen, von einem gewöhnlichen Dunkelbraun, schienen dem zu widersprechen; sie bargen einen Glanz, der bei passender Gelegenheit gefährlich werden konnte. Er kam nicht umhin, Joana mit der zweiten Frau von Enric Castells zu vergleichen, und er sagte sich, dass es eine oberflächliche Ähnlichkeit gab, eine beiden Frauen gemeinsame Blässe. Aber damit endeten die Ähnlichkeiten: In den Augen von Glòria lagen Zweifel, Unsicherheit, auch Gehorsam; in denen von Joana blitzte die Aufsässigkeit, etwas Herausforderndes. Es lag auf der Hand, dass Castells nicht ein zweites Mal dasselbe Risiko eingehen wollte und eine sanftere, fügsamere Frau gewählt hatte. Die Frau vor ihm, sagte er sich, hatte es verdient, die Wahrheit zu erfahren, und so fuhr er im selben Ton fort und ignorierte die Ungeduld, die dem Kommissar schon ins Gesicht kroch.
»Aber die jungen Leute lügen, zumindest teilweise. Womit ich nicht sagen will, dass sie etwas mit dem Geschehen danach zu tun gehabt hätten«, erklärte er. »Nur dass sie einen Teil der Geschichte, nun ja ... leicht entschärft haben.«
Worauf er ihnen berichtete, was Leire Castro entdeckt hatte, als sie die Fotos auf Gina Martís Facebookseite sah, ebenso von dem Fund des T-Shirts, das Marc an dem Abend getragen hatte: sauber, wenn auch mit Flecken, die sehr wohl von Blut stammen konnten.
»Der nächste Schritt wäre also, Aleix Rovira eingehend zu vernehmen«, sagte er, ohne Blick zu Savall, »denn der angebliche Streit, von dem sie uns erzählt haben, könnte heftiger gewesen sein, als ihre Schilderung nahelegt. Und ein Gespräch mit dem Bruder von Aleix, damit er uns erneut bestätigt, dass der Junge nachhause gekommen und nicht noch einmal weggegangen ist. Was ich auch für das Wahrscheinlichste halte. Vielleicht war es tatsächlich nur eine Rauferei unter Freunden, nichts Ernstes, aber ernst
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