Der Sommer der toten Puppen
genug, dass Marc ein paar Blutflecken aufs T-Shirt bekommt und sich umzieht. Eine Rauferei, bei der Marcs Laptop auf den Boden gefallen und kaputtgegangen ist ...«
Er dachte nach. Warum hatte Gina ihnen nichts von dem kaputten Notebook gesagt? Auch wenn es sich bloß um einen kleinen Streit gehandelt hatte, wie sie sagte, wäre es weniger verdächtig gewesen, wenn sie erzählte, was sie ohnehin herausfinden würden. Aber dann bremste er sich, seine Gedanken galoppierten ihm davon, er musste fortfahren.
»Das ändert nichts an dem, was danach geschah«, sagte er, doch seine Stimme klang nicht allzu überzeugend. »Uns fehlen noch ein paar Teile, um das Bild zu vervollständigen. Fürs Erste haben wir den Laptop und das Handy von Marc sichergestellt, wer weiß, was es bringt.« Jetzt allerdings schaute er zum Kommissar. Und er freute sich, als er sah, wie der nickte, wenn auch zähneknirschend. »Aber wollten Sie uns nicht auch etwas sagen, Frau Vidal?«
Joana nahm das übergeschlagene Bein herunter, kramte in ihrer Handtasche und zog ein paar gefaltete Blätter hervor. Sie hielt sie beim Sprechen fest, als wollte sie sich nicht von ihnen trennen.
»Vor ein paar Monaten hat sich Marc per E-Mail mit mir in Verbindung gesetzt.« Es kostete sie Überwindung. Sie räusperte sich und warf den Kopf zurück. Sie hatte einen langen, weißen Hals. »Wie Sie vermutlich wissen, hatten wir uns nicht gesehen, seit ich gegangen bin. Vor achtzehn Jahren. Seine erste Nachricht war also eine echte Überraschung.«
»Woher hatte er deine Adresse?«, fragte der Kommissar.
»Fèlix hat sie ihm gegeben, Enrics Bruder. Es mag dir seltsam vorkommen, aber die ganze Zeit über hatten wir Kontakt. Ich und mein ehemaliger Schwager, meine ich.« Und mit einem Blick zu Héctor: »Kennen Sie ihn?«
»Ja, ich habe gestern mit ihm gesprochen. Im Haus Ihres Exmanns. Er scheint seinen Neffen sehr gemocht zu haben.«
Sie nickte.
»Enric ist ja auch ein vielbeschäftigter Mann.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe kein Recht, ihn zu kritisieren. Ich bin sicher, er hat getan, was er konnte ... Aber Fèlix hat keine andere Familie als die seines Bruders, und er hat sich immer große Sorgen um Marc gemacht. Wie dem auch sei, jedenfalls habe ich eine Nachricht erhalten, Anfang des Jahres. Von ... meinem Sohn.« Es war das erste Mal, dass sie es aussprach, und es fiel ihr nicht leicht. »Ich war sehr überrascht. Natürlich konnte so etwas jeden Moment passieren, aber ich war nicht darauf gefasst.«
Es wurde still, und Savall und Héctor wagten es nicht, die Stille zu durchbrechen. Sie tat es.
»Erst wusste ich nicht, was ich antworten sollte, aber er beharrte. Es kamen ein paar weitere Mails, und ich konnte mich nicht länger verweigern, so dass wir anfingen, uns zu schreiben. Ich weiß, es klingt merkwürdig. Eine Mutter und ihr Sohn, die sich praktisch nie gesehen haben, und dann verkehren sie per E-Mail miteinander.« Sie lächelte bitter und fuhr fort: »Ich hatte Angst vor den Fragen, den Vorwürfen auch, aber nichts dergleichen. Marc erzählte nur von seinem Leben in Dublin, von seinen Plänen. Als hätten wir uns erst vor kurzem kennengelernt, als wäre ich nicht seine Mutter. So ging das etwa drei Monate weiter, bis ...« Sie schwieg einen Augenblick und wandte sich ab. »Bis er vorschlug, mich einmal in Paris zu besuchen.«
Sie sah auf die Blätter hinab, die sie in der Hand hielt.
»Die Vorstellung erschreckte mich«, sagte sie. »Ich weiß nicht, warum. Ich sagte ihm, ich müsse darüber nachdenken.«
»Und, war er verärgert?«, fragte Héctor.
Sie zuckte die Achseln.
»Ich nehme an, es war ein kalter Guss. Von da an kamen seine Mails seltener, bis er fast gar nicht mehr schrieb. Aber gegen Ende seines Aufenthalts in Irland schickte er mir diese Zeilen.«
Sie entfaltete die Blätter, nahm eins und gab es Savall. Der las die Mail und reichte sie weiter an Héctor.
Hallo, ich weiß, ich habe schon lange kein Lebenszeichen mehr gegeben, ich werde auch nicht darauf drängen, dass wir uns sehen, zumindest nicht im Moment. Ich muss nämlich zurück nach Barcelona, um eine Sache zu regeln. Ich weiß noch nicht, wie, aber ich muss es versuchen. Wenn alles vorbei ist, fände ich es schön, wenn wir uns sehen. In Paris oder in Barcelona, wo es dir lieber ist. Mit Kuss,
Marc
Héctor blickte auf, und noch ehe er seine Frage formuliert hatte, antwortete Joana.
»Nein, ich habe keine Ahnung, welche Sache er meinte. Damals dachte
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