Der Sommer der toten Puppen
vielleicht war der Kerl bloß abgehauen, um sein makabres Glück woanders zu versuchen. Was gar nicht so abwegig schien: Wenn der Frauenhändlerring seine wichtigste Einnahmequelle war, musste er sich seinen Lebensunterhalt jetzt auf andere Weise verdienen. Das Blut an der Wand und die Nummer mit dem Schweinekopf konnten ein Ablenkungsmanöver sein, seine Art, den eigenen Abgang zu inszenieren. Andererseits war der Typ nicht mehr ganz jung. Er hatte in Barcelona seine Verbindungen und diese widerliche Praxis. Zum Millionär mochte es nicht reichen, aber sicher verdiente er mehr, als wenn er irgendwo bei null anfangen musste.
Seine Persönlichkeit war ein Rätsel geblieben. Die Leute aus dem Viertel hatten nur spärlich Auskunft gegeben. Sie selbst war den ganzen Morgen von Tür zu Tür gegangen und hatte versucht, etwas herauszubekommen, aber das Einzige, worüber sie sich Klarheit verschaffen konnte, war, dass der Name des Doktors zumindest Argwohn weckte; in einigenFällen ersichtlich Angst. Eine junge Kolumbianerin, die im selben Haus wohnte, hatte freiheraus gesagt: »Ein seltsamer Mensch ... Ich habe mich immer bekreuzigt, wenn ich ihm begegnet bin. Er hat schlimme Sachen gemacht dort drinnen.« Sie hatte die Frau ein wenig unter Druck gesetzt, aber nur eine vage Antwort erhalten: »Es heißt, er holt die Teufel aus dem Leib, aber wenn Sie mich fragen, dann ist er selber der Teufel«. Dann hatte sie nur noch geschwiegen.
Allzu merkwürdig war das nicht, dachte Martina. So verwunderlich es erscheinen mochte, in Städten wie Barcelona waren exorzistische Praktiken an der Tagesordnung, und da die Priester der Gräflichen Stadt sich nicht mehr mit solchen Dingen befassten, mussten jene, die daran glaubten, sich alternative Exorzisten suchen. Sehr gut möglich, dass Dr. Omar einer von ihnen war. Bei der Durchsuchung der Praxis hatte sie wenige, aber aussagekräftige Indizien gefunden: jede Menge Kreuze und Kruzifixe, Bücher über Satanismus, Santería und Ähnliches, auf Französisch und Spanisch. Seine Kontobewegungen waren lächerlich, die Wohnung hatte er vor Jahren bar bezahlt; Freunde hatte er keine, und wenn er tatsächlich Kunden hatte, würden die bestimmt nicht auf dem Kommissariat aussagen.
Martina erschauerte bei dem Gedanken, dass in einer Stadt wie Barcelona solche Dinge nach wie vor geschahen. An der Oberfläche Jugendstilfassaden und tolle Geschäfte, Horden von Touristen, die die Stadt belagerten ... und darunter, im Schutz der Anonymität, Menschen wie Dr. Omar: ohne Wurzeln, ohne Familie, die abartigsten Riten praktizierend, und niemand bekam etwas mit. Schluss jetzt, sagte sie sich. Sie würde am Montag weitermachen. Sie ließ die verschlossene Akte auf dem Tisch und wollte gerade aufstehen, als das Telefon klingelte. Scheiße, dachte sie, Anrufe in letzter Minute bedeuteten immer Ärger.
»Ja?«
Eine Frauenstimme, zitternd vor Nervosität und mit südamerikanischem Akzent, stammelte am anderen Ende der Leitung:
»Sind Sie zuständig für den Fall mit dem Doktor?«
»So ist es. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?«
»Nein, nein ... Nennen Sie mich Rosa. Ich muss Ihnen etwas sagen, wir können uns treffen, wenn Sie möchten.«
»Woher haben Sie meine Telefonnummer?«
»Von einer Nachbarin, Sie haben sie verhört.«
Martina sah auf die Uhr. Das Fitnessstudio schwand in weite Ferne.
»Und Sie möchten, dass wir uns jetzt treffen?«
»Ja, jetzt gleich. Bevor mein Mann wiederkommt ...«
Hoffentlich lohnt es sich, dachte Martina resigniert.
»Wo können wir uns treffen?«
»Kommen Sie zum Parc de la Ciudadela. Sie finden mich hinter dem großen Brunnen. Wissen Sie, wo ich meine?«
»Ja«, antwortete Martina. Ab und zu mit den Kindern in den Zoo zu gehen hatte seine Vorteile.
»Ich warte dort auf Sie, in einer halben Stunde. Seien Sie pünktlich, ich habe nicht viel Zeit ...«
Die Unterinspektorin wollte noch etwas hinzufügen, aber die Leitung war schon unterbrochen. Sie nahm ihre Handtasche und verließ das Kommissariat. Mit ein wenig Glück konnte sie wenigstens die Kinder noch abholen.
Für Leire Castro trug der Nachmittag allmählich Früchte. Vor sich auf dem Tisch hatte sie eine Auflistung von Aleix Roviras Handygesprächen in den letzten zwei Monaten, und es war überaus interessant, nicht nur wegen der wahnsinnig hohen Zahl von Anrufen. Auf der Liste markierte sie die Nummern, die wiederholt vorkamen. Am merkwürdigsten waren die Verbindungen am Wochenende; den ganzen Tag und
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