Der Sommer der toten Puppen
richtig war, Señora. Ich will keine Schwierigkeiten.« Sie senkte den Kopf und fasste an eine Medaille, die sie an einer Halskette trug.
»Ganz ruhig, Rosa. Sie haben geglaubt, Sie müssten mich anrufen, also muss es etwas Wichtiges sein. Sie können mir vertrauen.«
Die Frau schaute sich um und seufzte:
»Es ist ...«
»Ja?«
»Ich ...« Schließlich gab sie sich einen Ruck: »Versprechen Sie mir, dass Sie nicht zu mir kommen und dass ich nicht aufs Kommissariat muss?«
Martina hasste es, Versprechungen zu machen, die sie vielleicht nicht würde halten können. Aber solche Lügen gehörten zu ihrer Arbeit.
»Ich verspreche es.«
»Also ... ich kannte den Doktor. Er hat meine Tochter geheilt.« Ihre Stimme zitterte. »Ich ... ich weiß, dass man hier an solche Dinge nicht glaubt, aber ich habe es gesehen, jeden Tag. Dem Mädchen ging es immer schlechter.«
»Was hatte sie denn?«
Rosa sah sie verstohlen an und hielt die Medaille fest umklammert.
»Bei der Heiligen Jungfrau, Señora. Meine Tochter war verhext. Mein Mann wollte kein Wort davon hören. Er hat mich sogar geschlagen, als ich es ihm sagte ... Aber ich wusste es.«
Martina spürte einen kalten Hauch.
»Und Sie haben sie in die Praxis von Dr. Omar gebracht?«
»Ja. Eine Freundin hatte ihn empfohlen, und wir wohnten nicht weit entfernt. Also habe ich sie hingebracht, und er hat sie geheilt, Señora. Er hat seine heiligen Hände auf ihre Brust gelegt und den Teufel verjagt.«
Während sie es sagte, bekreuzigte sie sich. Martinas Ton wurde unwillkürlich eisig, als sie fragte:
»Um mir das zu erzählen, haben Sie mich hergeholt?«
»Nein! Sie sollen nur wissen, dass der Doktor ein guter Mensch war. Ein Heiliger, Señora. Aber da ist noch etwas. Ich hatte kein Geld, um alles auf einmal zu bezahlen, also musste ich noch einmal hin ... Ich glaube, ich habe ihn gesehen, an dem Tag, als er verschwunden ist.«
Die Unterinspektorin zuckte zusammen.
»Um wie viel Uhr?«
»Am Abend, gegen acht Uhr. Ich habe bezahlt, und als ich aus der Praxis kam, habe ich ihn gesehen.«
»Wen haben Sie gesehen?«
»Einen Mann, unten an der Haustür, er wartete und rauchte, als könnte er sich nicht entschließen, hineinzugehen.«
»Wie sah er aus?« Martina nahm ihren Notizblock, hellwach.
»Den brauche ich Ihnen nicht zu beschreiben.« Die Frau fing fast an zu weinen. »Sie ... Sie kennen ihn. Am nächsten Tag habe ich ihn wieder gesehen, mit Ihnen, Sie haben in einem Restaurant in der Nähe gegessen.«
»Meinen Sie Inspektor Salgado?«
»Ich weiß nicht, wie er heißt. Er hat mit Ihnen gegessen, als wären Sie Freunde.«
»Sind Sie sicher?«
»Sonst hätte ich Sie doch nicht angerufen, Señora. Aber versprechen Sie mir, dass keiner zu uns kommt. Wenn mein Mann erfährt, dass ich die Kleine zu dem Doktor gebracht habe ...«
»Ganz ruhig«, sagte Martina, sie flüsterte fast. »Sagen Sie niemandem etwas davon. Aber ich muss Sie erreichen können, geben Sie mir eine Handynummer, irgendwas ...«
»Nein! Ich bin jeden Nachmittag hier, mit der Kleinen, wenn Sie etwas brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden.«
»Na schön.« Martina sah sie ernst an. »Aber noch einmal, Rosa: Kein Wort davon zu niemandem.«
»Ich schwöre es Ihnen, Señora, bei der Heiligen Jungfrau.« Rosa küsste die Medaille und stand auf. »Ich muss jetzt gehen.«
Als die kleine Tochter, die sich abseits gehalten hatte, ihre Mutter herbeikommen hörte, drehte sie sich um. Sie lächelte immer noch nicht.
Martina Andreu sah, wie sie sich entfernten. Auch sie sollte jetzt gehen, aber ihre Beine weigerten sich. Die goldenenPferde der Quadriga, welche die Brunnenanlage krönte, schienen sich aufzubäumen vor einem Wind, der weiter die Bäume peitschte, und in der Ferne erklang Donnerhall. Ein Sommergewitter, sagte sie sich. Das alles ist nicht mehr als ein verdammtes Sommergewitter.
19
Der AVE aus Madrid fuhr fahrplanmäßig ein. Die Bahnhofshalle war um diese Zeit, an einem Freitagnachmittag im Sommer, ein einziges Gewimmel von Menschen, die sich aufmachten, die erstickende Stadt gegen die überfüllten Strände einzutauschen, auch wenn es noch dazu eine Fahrt in vollen Zügen bedeutete. Von ihrer Bank in der Halle aus beobachtete Leire das Durcheinander: grölende Ausflügler mit Rucksack, Mütter mit riesigen Umhängetaschen, im Schlepp kleine Kinder, die unbeholfen versuchten, das Ticket in den Schlitz zu bekommen, erschöpfte Einwanderer nach einem Arbeitstag, der sicher in aller
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