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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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Frühe begonnen hatte, Touristen, die die Abfahrtstafeln studierten, als wären es die Gesetzestafeln, ohne auf ihre Brieftasche zu achten.
    Leires Aufmerksamkeit entging nicht, dass ein paar junge Mädchen durch die Halle schlenderten und keinerlei Anstalten machten, einen Zug zu nehmen. Taschendiebe, sagte sie sich, als sie sah, wie diese einen komplizenhaften Blick wechselten – eine noch schlimmere Sommerplage als die Mücken, und schwieriger zu bekämpfen auch. Sie beobachtete gerade eins der Mädchen, wie es hinter einer Frau mittleren Alters in die Toilette trat, einer Ausländerin offenbar, als sie merkte, dass jemand sich neben sie setzte.
    »Spionierst du den Leuten nach?«, fragte er in spitzem Ton. »Ich darf dich daran erinnern, dass du nicht im Dienst bist.«
    Sie drehte sich um. Es war dieselbe verspiegelte Sonnenbrille, derselbe akkurate Zweitagebart; waren dieselben blendend weißen Zähne, dieselben Hände. Derselbe Mensch, mit dem sie im Warteraum einer physiotherapeutischen Praxiszusammengetroffen war und der sie erst wie ein Wolf über die Zeitung hinweg belauert und dann gesagt hatte: »Massagen kitzeln meinen sensibelsten Teil hervor. Treffen wir uns unten, in etwa einer Stunde?« Sie hatte belustigt zugestimmt, sie dachte, es wäre ein Witz.
    »Das Verbrechen ruht nie«, erwiderte Leire.
    »Das Verbrechen vielleicht nicht, aber du solltest es«, scherzte er. Er stand auf. »Meine Lungen brauchen Nikotin. Und ich ein Bier. Bist du mit dem Motorrad da?«
    »Ja.«
    Er gab ihr einen raschen Kuss. Genau wie sie war er kein Freund von öffentlichen Zärtlichkeiten, aber er machte ihr Lust auf mehr.
    »Warum fahren wir nicht runter zum Strand? Die ganze Woche bin ich in der Hitze von Madrid erstickt. Ich möchte das Meer sehen, mit dir.«
    Die Strandbar läutete den Freitagabend mit Discomusik ein, und die Gäste, Körper im Bräunungsmittelglanz, ließen sich verlocken von dem sanft aufdringlichen Rhythmus und den Mojitos, die eine junge Lateinamerikanerin an einem eigenen kleinen Tresen zubereitete. Mit angewinkelten Knien und den Füßen auf dem Stuhl gegenüber zündete sich Tomás seine dritte Zigarette an und bestellte das zweite Bier. Das erste hatte er fast in einem Zug ausgetrunken, und er schaute auf den schon halb leeren Strand, auf dieses ruhige Meer vor der Stadt, fast ohne Wellen, von verwaschenem Blau.
    »Du glaubst nicht, wie ich mich danach gesehnt habe«, sagte er, ließ die Schultern sinken und stieß langsam den Rauch aus, als wollte er sich von einer tiefen Erschöpfung befreien. Er hatte das Jackett ausgezogen und die oberen Hemdknöpfe geöffnet.
    Leire lächelte ihm zu.
    »Du kannst reinspringen, wenn du willst. Das Wasser ist nicht gerade kristallklar, aber auch nicht schlecht.«
    »Ich habe meine Badehose nicht dabei«, sagte er. Er gähnte. »Außerdem möchte ich jetzt rauchen und trinken. Du nur eine Coca-Cola?«
    »Ja.« Sie versuchte ihr Gesicht aus dem Rauch zu halten. Wieso wurde ihr von fremdem Rauch übel, nicht aber vom eigenen?
    »Und, was gibt’s Neues? Ein interessanter Fall?«
    »Der ein oder andere. Aber sprechen wir nicht von der Arbeit, bitte. Ich habe eine schreckliche Woche hinter mir.«
    »Klar doch. Aber immerhin ist deine Arbeit interessant. Wirtschaftsprüfungen in Krisenzeiten sind deprimierend.« Er zog sie zu sich und schlang seinen Arm um ihre Schultern. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«
    Sie antwortete nicht, und er sprach weiter.
    »Ein paarmal dachte ich, ich rufe dich an, aber ich wollte dich nicht nerven. Die Woche war ziemlich intensiv.«
    Intensiv. Ja, das war das Wort. Eins der Wörter. Sie musste nur mit ihm zusammen sein, seinen starken Arm spüren, und alles in ihrem Körper begann zu flirren. Schon seltsam. Reine sexuelle Chemie, als wären sie dafür geschaffen, einander zu befriedigen.
    »Aber neulich konnte ich nicht mehr.« Sie fragte nicht, warum. »Ich wusste, ich muss dich sehen. Wenigstens am Wochenende.«
    »Es regnet bald«, sagte sie.
    »Bist du nicht gerne am Strand, wenn es regnet?«
    »Ich bin lieber im Bett. Mit dir.«
    Sie konnten es kaum erwarten, in Leires Wohnung zu kommen. Die anschmiegsame Nähe auf dem Motorrad, dazu die knisternde Gewitterluft heizten sie auf, und gleich im Treppenhaus fing er an zu fummeln, ohne die geringste Scham. Sie wehrte sich nicht. Noch in der Tür küssten sie sich gierig, bis sie sich löste und ihn hereinzog. Sie ließ seine Hand keine Sekunde los, nicht einmal, als er nach ihrem

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