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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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ob es im Fall dieses Mädchens etwas Auffälliges gegeben hat. Etwas, was heute, dreizehn Jahre später, für jemanden bedrohlich geworden sein könnte.«
    »Ich weiß nicht, ob ich dich verstehe.«
    Héctor drückte die Zigarette aus.
    »Doch, du verstehst mich.« Er holte tief Luft. »Du weißtgenau, wovon ich spreche. Es gibt Dinge, die bei den Ermittlungen ans Licht gekommen sein müssen: Iris aß nichts, sie war zwei Tage vorher ausgerissen, sie war unverschämt zu anderen. Sie hatte sich im letzten Jahr sehr verändert, ihre Mutter hatte sie nicht mehr im Griff. Hat dich das alles nicht auf einen Gedanken gebracht?«
    »Wovon du sprichst, ist viele Jahre her, Héctor.«
    »Kindesmissbrauch gibt es nicht erst seit heute, Lluís. Das hat es immer gegeben. Und jahrelang wurde das hier vertuscht.«
    »Es gab dafür keine Indizien.«
    »Ach, nicht? Ihr Verhalten schien dir kein ausreichendes Indiz zu sein? Oder habt ihr euch einfach auf das verlassen, was Pater Castells gesagt hat? Ein Priester aus gutem Hause, warum soll man so einem misstrauen?«
    »Es reicht! Ich dulde nicht, dass du so mit mir sprichst.«
    »Dann werde ich es anders formulieren. War der Tod von Iris Alonso ein Unfall?«
    »Ob du es glaubst oder nicht, ja.« Savall schaute ihm in die Augen, seine Autorität sollte der Antwort wahrscheinlich Gewicht verleihen.
    Héctor musste sie wohl oder übel akzeptieren, aber er war nicht bereit, klein beizugeben.
    »Und die Puppen? Wieso trieben all die Puppen auf dem Wasser?«
    »Ich habe gesagt, es reicht!« Aus dem Schweigen, das darauf folgte, klangen so viele Drohungen wie Fragen. »Wenn du den Fall überprüfen willst, kannst du die Akte einsehen. Es gibt nichts zu verbergen.«
    »Ich würde dir gerne glauben.«
    Savall sah ihn streng an.
    »Ich bin dir keine Erklärung schuldig. Das Mädchen ist ertrunken. Es war ein Unfall. Das ist schrecklich, aber es passiert jeden Sommer.«
    »Hast du wirklich nichts hinzuzufügen?«
    Savall verneinte stumm, und Héctor stand auf. Er wollte sich schon verabschieden, aber der Kommissar ergriff erneut das Wort.
    »Héctor. Du hast gesagt, wir sind Freunde. Darf ich dich als Freund bitten, mein Wort zu akzeptieren? Ich könnte dir den Fall aus der Hand nehmen, aber ich vertraue lieber auf deine Freundschaft. Ich habe bewiesen, wie sehr ich dich schätze. Vielleicht ist es an der Zeit, dass du dasselbe tust.«
    »Bittest du mich um einen Gefallen? Wenn es das ist, sag es bitte deutlich. Sag es, und ich weiß, woran ich bin.«
    Savall starrte zu Boden.
    »Gerechtigkeit ist ein Spiegel mit zwei Seiten.« Dann hob er langsam den Blick: »Auf der einen Seite zeigt er uns die Toten, auf der anderen die Lebenden. Wer von ihnen scheint dir wichtiger?«
    Héctor schüttelte den Kopf, und während er vor seinem Vorgesetzten stand, betrachtete er diesen Mann, der ihm in den schwierigsten Momenten geholfen hatte; versuchte, in sich die Dankbarkeit zu finden, die er ihm schuldete, das Vertrauen, das er ihm immer eingeflößt hatte.
    »Gerechtigkeit ist ein dehnbarer Begriff, Lluís, darin sind wir einer Meinung. Deshalb spreche ich lieber von Wahrheit. Wahrheit gibt es nur eine, für die Lebenden und für die Toten. Dafür bin ich hergekommen. Aber ich sehe, ich werde sie hier nicht finden.«
    Als er vor dem Aufzug stand, wurde Héctor klar, mit welch üblem Nachgeschmack er das Haus verließ, und er fragte sich ernsthaft, ob er nicht noch einmal hineingehen und das Gespräch von vorn beginnen sollte. Er hatte schon den Finger an der Klingel, als das Handy sich meldete. Martina Andreu war dran, um ihm mitzuteilen, dass seine Vermieterin, Carmen, überfallen worden war. Der Aufzug war schon wiederweg, aber er wartete nicht länger, sprang die Treppe hinunter und nahm ein Taxi zum Hospital del Mar.

30
    Wenn für Männer die Liebe durch den Magen ging, war klar, dass die vier Fertiggerichte, die Leire gekauft hatte, Tomás nicht dazu bewegt hätten, ihr zu Füßen zu fallen. Und als sie dann sah, wie er lustlos die aufgewärmten Kroketten kaute, hatte sie fast Mitleid mit ihm. Am Telefon hatte er ihr mit einer Reibeisenstimme geantwortet, die darauf hindeutete, dass sich die Runde mit seinen Kumpels bis in den frühen Morgen hingezogen hatte, und nur widerstrebend willigte er ein, zu ihr zu kommen und etwas zu essen. Er war jetzt bemüht, sich einen wachen und hungrigen Anschein zu geben, dabei wusste er nicht einmal, dass der Nachtisch, der ihn erwartete, noch schwerer zu schlucken

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