Der Sommer der toten Puppen
der Beteiligten im Fall Marc Castells, mit dem Anblick Ginas in der blutverschmierten Badewanne und dem Bild des Mädchens, das im Schwimmbecken ertrank. Ein Film, der so surrealistisch war wie eindringlich.
Er versuchte erst gar nicht, die Sequenzen zu ordnen, ließ sie vielmehr in seinem Kopf frei dahintreiben, und genau wie die Geräusche, die ihn umgaben, verschwammen allmählich auch die einzelnen Aufnahmen. Das Stimmengewirr legte sich, und sein Gehirn konzentrierte sich auf ein einziges Standbild, unscharf und von schlechter Qualität, das Bild eines gewalttätigen und brutalen Héctor Salgado, wie er einen wehrlosen Kerl zusammenschlägt. Eine Stimme im Off ertönte, die des jungen Psychologen. »Denken Sie an andere Momente in Ihrem Leben, in denen Sie sich von der Wut haben mitreißen lassen.« Das hatte er nicht getan, er hatte sich geweigert, nicht nur in den letzten Tagen, sondern schon immer. Doch während er darauf wartete, dass der Arzt ihm berichtete, wie es um Carmen stand, diese Frau, die ihn fast wie einen Sohn behandelt hatte, konnte er auf einmal die Schranken niederreißen und an jenen anderen Moment in seinem Leben denken, als die Wut ihn gepackt hatte; jenen anderen Tag, als plötzlich alles schwarz wurde, jenen Tag, von dem nur ein galliger Nachgeschmack geblieben war. Es war seine letzte Erinnerung an den ersten Teil seines Lebens, dessen gewalttätiges Ende. Neunzehn Jahre hatte er die Schläge eines vorbildlichen Vaters ertragen, nach außen ein richtiger Gentleman, in Wahrheit ein Arschloch, wie es im Buche stand, das nicht eine Sekunde zögerte, wenn es ums Durchsetzen von Disziplin ging. Warum sein Zorn sich normalerweise auf ihn richtete und nicht auf seinen Bruder, hatte der junge Héctor sich in den neunzehn Jahren oft gefragt. Nicht dass sein Bruder verschont blieb, ganz und gar nicht, aber mit zunehmendem Alter spürte Héctor eine immer größere Grausamkeit in den Schlägen, die ihn selber trafen. Vielleicht weil sein Vater da schon wusste, dass er ihn von ganzem Herzen hasste. Doch niemals, nicht in den bittersten Momenten seiner Kindheit hätte er vermutet, dass es noch ein anderes Opfer gab, jemanden, der die Schläge hinter verschlossener Tür erhielt, in der Vertrautheit eines Schlafzimmers, das passenderweise am anderen Ende eines langen Flurs lag. Wie seine Mutter es geschafft hatte, all die Jahre ihre blauen Flecken zu verbergen, war nur mit einem Zuhause zu erklären, wo die Geheimnisse die Regel waren, wo es das Beste war, wenig zu sprechen und viel zu schweigen.
Er entdeckte es zufällig, an einem Freitagabend, als er sich beim Hockeytraining den Knöchel verstaucht hatte und früher nachhause kam. Er dachte, es wäre niemand da; sein Bruder hatte an dem Tag ebenfalls Training, und seine Mutter hatte gesagt, sie würden eine kranke Tante besuchen. So kehrte er heim, und wie alle Jugendlichen freute er sich darauf, einmal allein zu sein. Drinnen hörte er dann die rhythmischen Schläge, die erstickten Schreie. Und etwas explodierte in seinem Kopf. Er sah nur noch die Tür vor sich, die er entschlossen aufstieß, und das Gesicht seines Vaters, der erst überrascht reagierte, dann panisch, als sein jüngster Sohn ihm ohne zu zögern den Hockeyschläger in die Brust rammte und ihm anschließend auf den Rücken schlug, immer wieder, bis die Schreie seiner Mutter ihn zur Besinnung brachten. Gleich am nächsten Tag, von den Schlägen noch nicht genesen, arrangierte sein Vater alles, damit dieser ungeratene Sohn sein Studium in Barcelona fortsetzte, einer Stadt, in der er Verwandte hatte. Héctor begriff, dass es die beste Lösung war: neu anfangen, nicht zurückschauen. Was er bedauerte, war, seine Mutter zu verlassen, aber sie überzeugte ihn mit dem Argument, sie sei nicht in Gefahr, das am Vortag Geschehene sei absolut ungewöhnlich. Also ging er und versuchte zu vergessen. Doch jetzt, wo er auf einem Plastikstuhl vor der Intensivstation saß und die Erinnerung in seinem Gedächtnis Konturen annahm, verflog die Angst, und ein seltsamer Friede breitete sich aus, bittersüß, aber echt, ein Gefühl, wie er es seit damals nicht verspürt hatte. Und mit der größten Ruhe sagte er sich, wenn das, was seine Wut befeuert hatte, allein Unrecht und Ohnmacht waren, ob in seiner Jugend oder vor ein paar Monaten, dann waren ihm die Folgen egal. Sollten die Leute denken, was sie wollten.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er eine Hand auf der Schulter spürte. Er
Weitere Kostenlose Bücher