Der Sommer der toten Puppen
Carmens Schlüsselbund hingen sämtliche Schlüssel, und sie musste erst ein paar ausprobieren, ehe einer passte. Kaum hatte sie die Tür aufgestoßen, schlug ihr der bestialische Gestank ins Gesicht. Der Strom in der Wohnung war abgestellt, und so tastete sie sich voran, folgte ihrer Nase, bis sie in ein kleines Zimmer kam, wo sie glaubte, ein Fenster zu erkennen. Als sie die Jalousie aufzog, strömte das Licht herein. Sie wusste genau, wonach sie suchte, doch beim Anblick von Omars Leiche sprang sie zurück. Und sie rannte, rannte zur Wohnungstür, trat hinaus und schloss sie hinter sich. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen, kniff die Augen zusammen, versperrte die Tür, als würde sie von jemandem verfolgt, als könnte die Seele dieses toten Körpers ihre sterbliche Hülle verlassen und ihr nachgehen, um von ihr Besitz zu ergreifen. Erst mussten ein paar Sekunden vergehen, Minuten vielleicht, bis sie sich etwas beruhigt und davon überzeugt hatte, dass das, was dort drinnen war, ihr nichts mehr antun konnte. Schließlich schlug sie die Augen wieder auf, und sie erstickte einen Schrei der Überraschung und der Angst, als sie vor sich, mit sehr ernster Miene, diesen Freund sah, den sie jetzt mit jeder Faser ihres Körpers fürchtete.
Untätig auf einen Anruf zu warten war für die Beamtin Castro das Unerträglichste überhaupt, denn so viele Tugenden sie auch auszeichnen mochten, Geduld gehörte nicht dazu. So dass sie nach vierzig Minuten Plauderei mit María, in denen sie ständig nach dem Handy geschielt hatte, selber die Initiative ergriff und sich mit Inspektor Salgado in Verbindung setzte. Es antwortete nur die Mobilbox, die ihr, was sonst, die Möglichkeit anbot, nach dem Signalton eine Nachricht zu hinterlassen. Sie zögerte erst, doch dann entschied sie, sich lieber abzusichern und ihn über ihre Pläne zu informieren.
»Inspektor, hier ist Castro. Ich habe auf Ihren Anruf gewartet, es ist jetzt schon nach sieben. Mit Ihrer Erlaubnis mache ich weiter mit Rubén Ramos. Wenn es etwas gibt, rufen Sie mich an.«
Sie wusste nicht, ob es tatsächlich in Salgados Sinne war, aber an diesem Tag fühlte sich Leire Castro nicht allzu geneigt, die Meinungen ihrer männlichen Artgenossen zu berücksichtigen. Weshalb sie, auch wenn es ein gewisses Risiko bedeutete, in ihren Notizen nach der Nummer von Rubén suchte und sie wählte. Eine junge Stimme antwortete, mit einem unsicheren »Ja bitte?«. Sie setzte auf einen ähnlichen, leicht nervösen Ton und erklärte ihrem Gesprächspartner, dass Aleix ihr die Nummer gegeben habe, sie habe heute Geburtstag und wolle am Abend mit ihrem Freund ordentlich feiern. Ja, eins würde reichen, sagte sie und tat wie ein dummes Mädchen aus wohlhabender Familie, eine der typischen Kundinnen von Aleix. Sie vereinbarten Ort und Uhrzeit für das Treffen, weiter nichts, und Leire verabschiedete sich mit einem raschen »Bis dann«.
Als sie aufgelegt hatte, fragte sie sich, ob dieser Anruf sie vor dem Inspektor nicht in Bedrängnis brachte, und vorsichtshalber rief sie ihn noch einmal an. Genervt von der ewiggleichen Stimme aus dem Off, drückte sie die rote Taste, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
33
Martina wich keinen Millimeter von der Tür. Sie hielt Salgado fest im Blick, versuchte die Gedanken ihres Kollegen zu lesen. Sie schaffte es nicht, doch so wie Héctor sie ansah, schmolz zumindest die Panik dahin, die sie vor ein paar Minuten noch im Griff gehabt hatte.
»Bleib draußen, Héctor«, warnte sie ihn in festem, sachlichem Ton. »Das ist ein Tatort hier. Du kannst nicht rein.«
Er gehorchte und trat einen Schritt zurück. Der Gestank aus der Wohnung hatte sich noch eindringlicher im Treppenhaus verbreitet.
»Was hast du da drinnen gefunden?«
»Weißt du es nicht?«
»Nein.«
»Omar, Héctor. Tot. Man hat ihn totgeprügelt.«
Héctor Salgado hatte sehr wohl gelernt, in angespannten Situationen die Ruhe zu bewahren, seine Gefühle zu beherrschen. Beide standen einander weiter gegenüber, wie zwei erwartungsvolle Duellanten, während Martina Andreu sich darüber klarzuwerden versuchte, was sie als Nächstes tun sollte. Vor ihr stand ein Mann unter Mordverdacht: jemand, der mit dem Opfer am Nachmittag seines Verschwindens gesehen worden war; jemand, der eine Rechnung offen hatte mit dem Menschen, der jetzt tot da drinnen lag; jemand, in dessen Wohnung es Beweise gab, die ihn mit dem Fall in Verbindung brachten. Und vor allem jemand, der genau über der Wohnung
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