Der Sommer der toten Puppen
sie mochte die Beamten nicht aufhalten. Die Unterinspektorin wollte allein sein, ohneZeugen in Uniform, und sich auf eigene Faust umsehen. Etwas sagte ihr, dass der Überfall auf Carmen kein Zufall gewesen war. Héctor hatte recht: Es passierten zu viele Dinge um ihn herum, und keine guten. Andererseits gingen ihr die Aussagen der Zeugen weiter durch den Kopf, von Rosa und dem Metzger. Héctor konnte sie bitten, ihm blind zu vertrauen, und sie vertraute ihm, als Freundin. Aber die Polizistin in ihr forderte Beweise. Handfeste Beweise, die gegen die Aussagen sprachen, gerade weil sie keinen Anlass hatte, sie zu bezweifeln.
Als sie allein in Carmens Wohnung war, schloss sie die Tür und sah sich rasch um. Sie hatte die Frau in dem kleinen Flur zwischen Eingangsbereich und Küche gefunden. Der Angriff hatte von vorn stattgefunden, so dass es durchaus logisch wäre, wenn die Ärmste einem Unbekannten die Tür geöffnet und der sie, nachdem er eingetreten war, überfallen hätte. Aber warum? Die Wohnung war nicht durchsucht worden, es schien nichts zu fehlen; keine Schubladen auf dem Boden, keine offen stehenden Schränke. Ob den Kerl plötzlich etwas in die Flucht gejagt hatte? Nein, als Erklärung war das nicht sonderlich plausibel. Die Frau war zweimal mit einem Metallgegenstand geschlagen worden. Von der Waffe fehlte jede Spur. Verdammt, es gab keine Spur von nichts in dieser Wohnung, fluchte die Unterinspektorin. Ihre Augen fielen auf das Schränkchen vor dem Stromzähler. Wahrscheinlich hatte seine Vermieterin dort auch die Schlüssel von Héctor Salgados Wohnung hängen.
Mit dem Schlüsselbund in der Hand ging sie die Treppe hinauf. Der Gestank wurde für einen Moment heftiger und ließ dann wieder nach. Martina hatte es eilig, die Wohnung des Inspektors zu durchsuchen, für den Fall, dass er früher zurückkam. Der Zufall belohnte sie, und der erstbeste Schlüssel drehte sich auf Anhieb im Schloss. Sie fragte sich, als siedrinnen war, was sie dort eigentlich zu finden hoffte. Die Jalousien waren heruntergelassen. Sie machte Licht und ließ den Blick schweifen. Alles schien an seinem Platz zu sein. Sie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank, wo sie nur ein paar Bier sah und eine volle Kanne, offenbar Gazpacho. Eigentlich konnte sie sich Héctor nicht vorstellen, wie er selber welchen zubereitete. Von der Küche ging sie zurück ins Esszimmer und von dort zum Schlafzimmer. Das Bett zerwühlt, der Koffer offen in einer Ecke ... Typisch Single. Oder getrennt lebend.
Sie kam sich jetzt nicht nur wie ein Eindringling vor, sondern ein wenig heuchlerisch, und sie wollte schon gehen, doch auf dem Rückweg durchs Esszimmer sah sie, dass der Fernseher flimmerte. Héctor hatte ihn angelassen. Aber es lief kein Fernsehprogramm, nein. Was sich dort bewegte, war der Bildschirmschoner des DVD-Players. Wenn Salgado ihr gegenüber nicht die Videoaufnahmen erwähnt hätte, wäre sie nie auf die Idee gekommen, den Wiedergabeknopf zu drücken.
Als die ersten Bilder erschienen, packte sie sofort ein tiefer Ekel. Aber ob sie wollte oder nicht, sie musste sich das zweimal ansehen, um es zu begreifen. Zum Glück war es nicht sehr lang, nur ein paar Minuten, doch in diesen Minuten war deutlich das geschundene Gesicht eines alten Schwarzen zu erkennen, der fürchterlich blutete und kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren. Seine ausgetrockneten Lippen konnten kaum ein leises Stöhnen von sich geben, und seine Augen schafften es nicht mehr, die Person anzuschauen, die ganz offensichtlich seinen Todeskampf filmte. Auf dem unscharfen Bild versuchte Dr. Omar ein letztes Mal, die Augen zu öffnen, aber für den misshandelten Körper war die Anstrengung zu viel. Martina Andreu hörte klar seinen letzten Seufzer und sah, wie sein Gesicht im Tod erstarrte. Die Aufnahme endete dort, es blieb nur ein dunkler, grauer Nebel. Und mit einer Distanziertheit, wie man sie in langen Dienstjahren erlangt, wusste die Unterinspektorin, welcher Schritt der nächste war. Die losen Teile sortierten sich und bildeten ein unangenehmes, aber logisches Ganzes. Die Erklärungen der Zeugen, das Verschwinden von Omar, dieser abscheuliche Film und ... ja, der Gestank im Treppenhaus, sie fügten sich auf fast unwirkliche Weise und zeigten ihr den Weg, den sie zu gehen hatte.
Doch der nächste Schritt war nicht einfach. Bevor sie die Zentrale benachrichtigte, wollte sie sich vergewissern. Steif wie ein Automat ging sie hinunter in den zweiten Stock. An
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