Der Sommer der toten Puppen
Vortrag wieder von vorn, vielleicht überzeuge ich dich ja. Wir Frauen können ganz schön beharrlich sein, das weißt du. Und wir hören uns gerne reden.«
Rubén nickte und schaute bemüht gleichgültig durchs Seitenfenster. Leire hatte sich eingeordnet, es war kaum Verkehr an diesem Julisamstag.
»Ich will dir von einem Jungen erzählen, einem Kumpel von dir, aus ziemlich feinem Hause. Du weißt, wen ich meine, ja?«
Da ihr Begleiter keine Reaktion zeigte, sprach Leire weiter, ohne innezuhalten, sie war sich sicher, dass er aufmerksam zuhörte, auch wenn er unbeteiligt tat. Als das Wort »Mord« fiel, wollte er sich schon zu ihr hindrehen, riss sich aber zusammen. Doch kaum kam sie auf Aleix’ Familie und ihr Geld zu sprechen, ihre Beziehungen und guten Anwälte, die sie beauftragen konnten, um ihren verlorenen Sohn aus der Sache herauszuhauen – Geld, Beziehungen und Anwälte, von denen er, ein armes Schwein aus der Vorstadt, nur träumen konnte –, setzte sich sein Überlebensinstinkt durch, und Rubén erzählte, was er wusste und in der Johannisnacht gesehen zu haben glaubte.
Nachdem Leire ihm das Versprechen abgenommen hatte, am Montag zu einer bestimmten Uhrzeit auf dem Kommissariat zu erscheinen, ließ sie ihn laufen. Ganz sicher würde der Junge sich an die Abmachung halten. Und zum dritten Mal an diesem Tag nahm sie das Handy und rief Inspektor Salgado an.
34
Als die alte Uhr in der Wohnung ihrer Großmutter mit orchestralem Schwung neun Uhr schlug, wurde Joana bewusst, dass sie schon seit Stunden vor dem Laptop saß, versunken in den Texten und Fotos von Marc. Immer wieder hatte sie die Zeilen gelesen, hatte die Fotos betrachtet, hatte ihn gesehen, aufgedreht, betrunken, lächelnd, herumalbernd, ernst oder, auf irgendeinem Schnappschuss, mit einer absurden Grimasse. Für sie war er ein Fremder, und dennoch erkannte sie in dieser oder jener spontanen Geste deutlich den jungen Enric wieder, der auf nichts etwas gab und nur fürs Feiern lebte, der Fleiß und Eifer, die Ideale der Familie, verabscheute. Der sie erobert hatte. Und so erleichtert wie enttäuscht begriff sie, dass der Junge auf den Fotos vielleicht noch in den ersten Jahren eine Mutterfigur vermisst hatte, nicht aber sie. Nicht Joana mit ihren Fehlern, ihren Marotten, ihren Eigenarten. Auf den Fotos wirkte der Junge glücklich. So glücklich, wie man nur mit neunzehn sein kann, weit fort von zuhause, wenn einem die Zukunft wie eine endlose Folge leidenschaftlicher Momente vor Augen steht. Vielleicht traf sie eine Teilschuld an allem, selbst an dieser verdammten Verkettung von Umständen, an deren Ende er aus dem Fenster stürzte, aber nicht mehr als Enric, als Fèlix, nicht mehr als diese Freunde, die sie nicht kannte, oder als diese Iris. Sie alle hatten ihre Rolle gespielt, mehr oder weniger ehrenvoll, mehr oder weniger anständig. Der Gedanke, dass ihr, letztlich einer Unbekannten, beim Tod von Marc eine herausragende Rolle zukommen könnte, war geradezu anmaßend.
Es wurde dunkel, und sie musste die kleine Tischlampe anknipsen. Sie flackerte ein paarmal und ging wieder aus.Verärgert stand sie auf und machte die Deckenlampe an. Ihr trübes, gelbliches Licht schuf eine triste Atmosphäre, und auf einmal sah sie sich selbst, wie sie in dieser geerbten, unbeseelten Wohnung stand und in eine Vergangenheit eintauchte, die sie überwunden glaubte. Sie hatte viel aufgegeben damals, aber im Laufe der Jahre hatte sie es geschafft, sich in ihrem neuen Leben einzurichten. Das Leben ihrer Träume war es nicht, aber doch immerhin eines, in dem sie sich frei bewegen konnte. Und jetzt saß sie seit Wochen wieder in einem Gefängnis, das sie sich selbst geschaffen hatte. Sie machte sich ans Kofferpacken. Sie wollte nicht eher fahren, als bis sie diese Iris getroffen und gehört hatte, was sie ihr zu sagen hatte. Danach würde sie tun, was sie tun musste. Nach Paris zurückkehren und ihr Leben wieder aufnehmen, eine Gegenwart, die vielleicht noch unvollkommener war als vorher, aber zumindest ihre eigene. Das stand ihr zu.
Während sie die Sachen zusammenfaltete, fragte sie sich, ob Enric jetzt wohl auch Marcs Blog las. Am Morgen hatte sie ihn angerufen, aber er war nicht ans Telefon gegangen. Sie hatte ihm auf den Anrufbeantworter gesprochen.
Enric fuhr auf, als er hörte, wie die Tür seines Arbeitszimmers ins Schloss fiel.
»Habe ich dich erschreckt?«
»Nein.« Ihm war absolut nicht danach, mit Glòria zu sprechen, und aus reiner
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