Der Sommer der Toten
Butch zu, der die Ballen aus der Scheune warf. Sie lächelte ihm zu, um Freundlichkeit anzudeuten. Ob er sich an sie erinnern konnte? Aber der Riese arbeitete ungerührt weiter. Riesige Muskelpakete zeichneten sich unter dem verschwitzten blauen Arbeitshemd ab. Er hielt inne und begutachtete den Ballenstapel auf dem Boden. Zufrieden ließ er ein Brummen ertönen.
Auch ein Mensch mit nur einer Gehirnhälfte hätte den Heuwagen bis knapp an das Scheunentor herangefahren und dann die Ballen auf den Wagen geladen. Nicht aber Butch. Jetzt mußte er vom Heuboden herunter und jeden einzelnen Ballen vom Boden auf den Wagen befördern. Er mußte jeden Ballen also zweimal aufgabeln. Doch das schien ihm nichts auszumachen. Er verfügte über unerschöpfliche Kräfte. Ob er sich über das Ausmaß seiner Kraft im klaren war, wußte niemand, denn sein einziges Verständigungsmittel waren gegrunzte einsilbige Wörter, die, wenn er einen guten Tag hatte, wie Grundwörter seiner Bedürfnisse klangen: Essen, Schlaf, Arbeit, Schmerz und Liebe, die er aussprach wie IIIBBBB. Das hatte ihm Aggie Jensen beigebracht. Sie war wahrscheinlich der einzige Mensch im ganzen Dorf, der ihn anständig behandelte. Dauernd lief Butch rüber zu ihrem Haus und ließ sich tätscheln und streicheln.
Der Traktor tuckerte leise, während Butch die Leiter vom Heuboden herunterkletterte. Er hob einen Heuballen – achtzig oder neunzig Pfund schwer – mit einer Hand und warf ihn auf den Wagen.
Er wollte sich nach einem zweiten bücken, da sah er Katie neben der Scheune. Butch setzte den Ballen ab und sah sie an.
Und dann geschah etwas in seinem zurückgebliebenen Hirn, hinter den hellen ausgebrannten Augen. Er verzog das fleischige Gesicht zu einem Grinsen.
»Butch«, sagte Katie und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Kennst du mich noch? Katie?«
Butch sah sie angestrengt an und schien zu überlegen. Er stieß etwas hervor, das wie »FLLLL« klang und streckte ebenfalls die Hand aus.
»FLLLL« blökte er, irgendwie drängend, wie es schien.
Er faßte nach Katies Hand.
Und er riß sie zu sich empor und drückte sie an seinen großen Leib.
»FLLLL«, gurgelte er offenen Mundes.
Katie war zu überrascht, um zu schreien. All die Jahre hatte es immer nur geheißen »Hab bloß keine Angst vor Butch« oder »Groß, aber völlig harmlos« und »Nicht ganz richtig im Kopf, aber lieb wie ein Kätzchen«.
Und jetzt drückten die stählernen Arme ihr die Luft aus dem Leibe. Sein Unterleib begann konvulsivisch zu zucken.
»FLLLL«, schrie er in höchster Wonne hervor.
Katie unterdrückte ihre Panik, verlor aber kostbare Sekunden, indem sie dem Riesen gut zuzureden versuchte.
»Butch«, sagte sie ganz ruhig und versuchte ihn wegzudrängen, »Butch!«
Aber da hatte er sie schon auf einen Heuballen geworfen.
Katie schrie auf und wußte sogleich, daß niemand sie hören würde: das Tuckern des Traktors übertönte alles. Sie bekam keine Luft mehr und hatte das Gefühl, unter einer Steinladung begraben zu werden, als das Gewicht unvermittelt von ihr genommen wurde. Papa und Otto Ronsky hatten Butch an den Schultern gepackt und ihn zurückgerissen.
Otto schlug ihm links und rechts ins Gesicht. Butch heulte auf und jammerte wie ein geprügelter Hund.
»Alles in Ordnung, Katherine?« fragte Papa gefaßt. Das war typisch ländlich. Wozu die Aufregung, wenn es doch nur Butch war. Alle kannten Butch. Passiert war ohnehin nichts. Papa streckte die Hand aus. Sie zog sich daran hoch. Ein wenig schwankend stand sie da, mehr verlegen als wütend.
»Ja«, sagte sie mit bebender Stimme. »Ich wollte ihm nur guten Tag sagen. Ich dachte, er wäre … in Ordnung.«
»Ach ja, für gewöhnlich schon«, sagte Otto über die Schulter. Er brachte Butchs Kleidung in Ordnung. »Aber in letzter Zeit wird er komisch. Die Frau sagt, es wäre höchste Zeit, daß wir deswegen etwas unternehmen oder ihn weggeben.«
»Aber schließlich ist er mein Sohn und dazu eine verdammt tüchtige Arbeitskraft.«
Butch sah auf und wischte sich mit den Riesenpranken ein paar Tränen weg. »Wehhh«, stieß er klagend hervor.
Katie wollte zu ihm.
»Lieber nicht«, sagte Papa. »Man weiß nicht, was ihm noch einfällt.« Er sah Otto an. »Bis jetzt haben alle im Dorf den armen Teufel beschützt.«
Die beiden Männer nickten einander wie in stummem Einverständnis zu.
»Aber jetzt weiß ich nicht«, meinte Papa.
III
Mama erwachte kurz vor Mittag und noch vor der Ankunft von
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