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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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Anziehungskraft schien den alten verblichenen Bildern zu entströmen und sich auf den Raum zu übertragen. Kein Wunder, daß er immer an der Spitze der Gemeinde gestanden hatte. Als nächstes kam das Hochzeitsbild der Eltern, dann Katie als Baby, als Kleinkind. Und schließlich das Foto, das der alten Katrin eine Reaktion entlockte: es war ihr Bild, das aufgenommen worden war, als Katie zwei oder drei war. Auf diesem Bild war Mama eine junge Frau, Ende Zwanzig etwa, und doch glänzte ihr Haar bereits weiß an den Schläfen und oben an der Haarkrone.
    »Mama, wolltest du das hier sehen?«
    Ein Zwinkern.
    Warum? fragte sich Katie. Sie sah das Bild ein wenig verwundert an. Ein Bild, sonst nichts.
    Vielleicht hatte ihre Mutter sich selbst einfach sehen wollen, sich in ihrer Jugend und Gesundheit. Dann aber hatte es keinen Zusammenhang, mit der »Sache«, die sie eben besprachen, mit der Ursache von Mamas Zustand und ihrer Angst.
    Sie überlegte die nächste Frage. Mama wartete mit flehendem Blick.
    »Doc Bates ist im Anrollen«, rief Aggie aus der Küche.
    Da hörten sie bereits das Gerumpel auf der Brücke. Old Robert kläffte pflichtschuldig. Katie lief zum Fenster. Ja, es war Docs alter Packard, der, in eine Staubwolke gehüllt, auf das Haus zuhielt. Und Old Robert lief dem Fahrzeug entgegen, lief seitlich mit, ein schieres Wunder in seinem Alter. Old Robert, Papas Hund, sein ständiger Begleiter. Und jetzt sah es aus, als hege er Sympathien für Doc Bates!
    Katie wollte sich eben umdrehen, als es wieder passierte: vor ihren Augen, die auf die Wiese und die Pappeln längs des Baches gerichtet waren, sah sie mit erschütternder Deutlichkeit dieselbe Szene, die sie schon hinter dem Schuppen gesehen hatte. Eine Bergkette, unglaublich hoch und schroff, und ein Dorf, an einen steilen weideähnlichen Hang geschmiegt. Das Bild verblaßte, verlor sich, und da war wieder der Wagen von Bates, der einen Augenblick hinter den Hecken verschwand und schließlich auf dem Hof vorfuhr.
    »Ich habe da eine Idee«, flüsterte Aggie Jensen heiser und lief ins Schlafzimmer.
    Die Kranke schien der Panik nahe.
    »Keine Angst, Mama. Wir passen auf dich auf.«
    »Schnell, Katie«, befahl Aggie. »Nimm die Kissen weg. Leg Mama flach hin.« Und zu der Kranken: »Stell dich schlafend. Mach die Augen ja nicht auf. Ansonsten verpaßt dir der alte Quacksalber wieder die volle Pulle. Später unterhalten wir uns weiter, wenn dir danach zumute ist. Wir werden schon noch dahinterkommen, das weiß ich.«
    Katrin wirkte ungemein erleichtert, fast glücklich. Vorsichtig betteten sie die Kranke flacher. Vor dem Haus hörten sie Papa und Doc Bates miteinander reden und über die Veranda gehen. Als die beiden das Haus betraten, stand Aggie an der Küchenspüle, und Katie deckte eifrig den Tisch.
    »Nun, wie geht es den schönen Damen heute?« dröhnte Doc Bates leutselig und hob den alten Strohhut zum Gruß. Er war mager und knochig und wirkte voll und ganz zufrieden mit sich selbst.
    »Jetzt brauchen wir bloß ’ne Ente für Mittag«, gab Aggie zurück. »Den Quack haben wir schon da.«
    Der Doktor errötete. »Zu schade, daß du keinen findest, der dir zu dem verhilft, was du eigentlich brauchst«, sagte er. »Dir fehlt ein Kerl, der es dir ordentlich zeigt.«
    »Ich weiß bloß, daß ich auf so einen wie Sie …«, setzte Aggie an.
    »Aggie« warnte Papa sie.
    Aber Doc Bates stieß ein leises Lachen aus. »Ach, Katie«, begrüßte er sie. Wenn seine Liebenswürdigkeit geheuchelt war, dann war er ein guter Schauspieler.
    Mama wird sterben, dieser Gedanke schoß Katie durch den Kopf. Deshalb ist er so freundlich.
    »Und wie geht es unserer Patientin?«
    »Noch immer weggetreten«, sagte Aggie. »Das wollen Sie doch hören, oder?«
    »Soll das heißen, daß sie überhaupt nicht aufgewacht ist?«
    »Nein«, fuhr Aggie fort. »Vielleicht haben Sie ihr zuviel von dem Zeug verpaßt.«
    Das sagte sie so, daß es verbittert und ganz überzeugend klang. Alles übrige hing nun von Mama ab.
    Papa und Doc Bates tauschten einen Blick. Der Arzt schien zwar nicht besorgt, aber doch ein wenig verwundert. Gemeinsam gingen sie ins Schlafzimmer, wo das übliche Ritual vollführt wurde: Puls, Blutdruck, Stethoskop.
    »Katrin!« sagte Bates mehrere Male ganz laut. Mama rührte sich nicht.
    Der alte Arzt schien erstaunt.
    »War doch stärker, als ich dachte«, murmelte er.
    »Wollen Sie damit sagen, daß Sie gar nicht wissen, was Sie da machen?« höhnte Aggie.
    »Aggie, du

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