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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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können.
    »Mama, fühlst du dich halbwegs?«
    Ein rasches Zwinkern.
    Jetzt polterten bereits die Männer durch die Küche herein.
    Und dann war Doc Bates zur Stelle und zog die Spritze auf, voller milchiger Flüssigkeit. Mamas Blick tastete die Zimmerdecke ab und wechselte hin und wieder zu Katie. Sie versuchte ihr etwas mitzuteilen, ihr ein geheimes Wissen zu übermitteln, oder eine Vision, die sie Aggie bereits mitgeteilt hatte. Mama hatte Angst, das stand außer Zweifel, aber der lange Schlaf, das Essen und Aggies Gesellschaft hatten ihr Mut und Selbstbeherrschung verliehen. Sie wollte ihrer Tochter etwas sagen, das offenbar mit der Decke im Zusammenhang stand. Aber was? Katies Zimmer lag direkt über dem Krankenzimmer, aber …
    Doc Bates kniff die Lippen zusammen und stach zu. Katie hätte sich am liebsten auf ihn geworfen und ihn weggedrängt. Aber was hätte das genutzt, da sie ohnehin nicht wußte, was da vor sich ging! Bates pumpte die milchige Flüssigkeit in Mamas Vene. Ihr Blick wurde träge, trübte sich. Ein letzter Blick zu Katie, ein letztes Abtasten der Zimmerdecke, ein Blick zur Schubladenkommode. Dann fielen die Lider endgültig zu.
    »Das wär’s«, sagte der Arzt und richtete sich auf. »Ben, du hast mich im letzten Moment gerufen.«
    Ben Jasper nickte.
    »Ich glaube, ich erkläre es Katie jetzt gleich«, fuhr Bates fort. Dabei bemühte er sich, besonders freundlich zu klingen. »Katie, ich muß deine Ma mit starken Beruhigungsmitteln behandeln, weil sie geistig verwirrt ist.«
    »Geistig verwirrt?«
    »Na ja, so könnte man es als Laie nennen. Ich möchte mich nicht in medizinischen Details verlieren. Schließlich möchte ich verstanden werden. Sieh mal, deine Mutter hat einen Schlaganfall erlitten, und etliche der vielen Bereiche ihres Gehirns – Gedächtnis, Überlegung, Erkennungsvermögen – funktionieren nicht mehr. Wenn sie nun erwacht und womöglich zu grübeln anfängt, erleidet sie womöglich aus Angst einen Schock. Und ich möchte nicht, daß man ihr irgendwie zusetzt und sie sich ängstigt, verstehst du? Falls sie über den Berg kommt, möchtest du doch sicher keine Mutter, deren Persönlichkeit angstneurotisch ist, oder?«
    Der Arzt lächelte mitfühlend. Katie wünschte, sie hätte mehr über Schlaganfälle und deren Nachwirkungen gewußt. Bates wirkte so aufrichtig. Aber das fiel ihm ja nicht schwer, es gehörte zu seinem Beruf, egal in welcher Situation er sich befand. Und seine Erklärung war eigentlich sinnvoll, wenn auch irgendwie unheimlich.
    »Nein, das möchte ich nicht«, hörte Katie sich sagen. Dabei hielt sie es für lächerlich, daß jemand ihre Mutter ängstigen sollte. Ihre Mutter litt ja bereits unter entsetzlicher Angst, als sie nur die Augen aufschlug.

 
Freitagabend
     
     
I
     
    Katie war mit dem Geschirr fertig und setzte sich an den Küchentisch. Das Haus war ganz still, Katie war mit ihrer Mutter allein. Im Obergeschoß tickte die Uhr vor sich hin und zählte beständig das Abgleiten der Zeit in die Dämmerung, in den Abend. David mußte bald eintreffen.
    In gewisser Weise war die Stille das Schlimmste. Aggie war fort. Mama schlief betäubt, jenseits des Bewußtseins, vielleicht sogar jenseits der Träume. Und Papa war in düsterer Stimmung und außerdem aus irgendeinem Grund nervös. Beim Abendessen hatte er schweigsam dagesessen und nicht mal über Aggie Jensen ein Wort verloren.
    »Na, wenigstens kannst du die Kellertür jetzt offen lassen«, hatte Katie gesagt. »Aggie bringt deinen Besitz nicht mehr in Gefahr.«
    »Stimmt genau«, erwiderte Papa, erstaunt, daß sie einen spöttischen Ton angeschlagen hatte. »Aber leider habe ich den Schlüssel verloren.«
    »Vielleicht hat Aggie ihn mitgehen lassen.« Das sagte sie mit einer gewissen Schärfe.
    »Wird schon wieder auftauchen«, murmelte er und trank seinen Kaffee aus. »Bevor es finster wird, möchte ich mir das Dach des Getreidespeichers ansehen. Ich möchte es endlich ausbessern.«
    »Und warum? Wirst du den Speicher je wieder benutzen?«
    Ihr Vater gab keine Antwort. Katie bekam das Gefühl, daß sie diese Frage nicht hätte stellen sollen und daß sie ihn gekränkt hatte. Sein Leben hatte den Höhepunkt längst überschritten. Seine Farm war fast abgewirtschaftet. Und wahrscheinlich standen ihm weitere Verluste bevor. Ein Unglück kommt selten allein. Der baufällige Getreidespeicher rief ihm das alles in Erinnerung. Vielleicht würden die Ausbesserungsarbeiten ihm darüber

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