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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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hinweghelfen.
    »Tut mir leid«, sagte sie.
    Er gab keine Antwort. Sein alter Filzhut hockte schief auf seinem Kopf, das Schweißband war zerschlissen.
    Er ging hinaus.
    Katie sah bei ihrer Mutter nach, machte noch ein paar Handgriffe in der Küche. Hoffentlich würde David bald kommen. Sie mußte ihm von dem Vorfall mit Butch Ronsky erzählen, von ihren Erlebnissen hier im Haus, von den Leuten im Laden. Und von der merkwürdigen Bergvision, die sie gehabt hatte. Und das alles mußte sie ihm beibringen, ohne daß er sich wieder aufregte und alle Schuld ihrem Vater gab. Damit wäre ihr nicht gedient.
    Und sie mußte sich ausdenken, wie sie hinüber zu Aggie Jensens Haus kam, ohne ihren Vater zu ärgern. Wenn die Frau bei ihrem »Zwiegespräch« mit Ma etwas erfahren hatte, etwas, das Doc Bates beunruhigte, dann wollte Katie erfahren, um was es sich handelte. Sie war fest entschlossen, und im nächsten Augenblick kam sie sich albern vor. Vielleicht war überhaupt nichts passiert. Sie war schließlich volle drei Jahre nicht daheim gewesen. Diese Kluft war nicht zu überbrücken. In dieser Zeit war hier vieles passiert, von dem sie keine Ahnung hatte. Dazu kam, daß Mama schwer krank war und deshalb alles aus den Fugen geraten war. Anspannung und Nervosität. Das bedeutete, daß Wahrnehmung und Sensibilität geschärft waren und Argwohn wucherte.
    Und Butch Ronsky war körperlich herangereift, während sein Gehirn gleichzeitig immer mehr verkümmerte. Das war ganz natürlich. Es gab für alles eine vernünftige Erklärung. Katie hatte Doc Bates nie leiden können, und er wußte es. Papa hatte Aggie nie leiden können, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Es war alles beim alten geblieben, und es hatte keinen Zweck, etwas hineinzugeheimnissen. Und andererseits hatten drei Jahre ausgereicht, um das Feuer des fehdeähnlichen Kampfes mit Otto Ronsky einzudämmen. Und schließlich hatte auch das merkwürdige schleifende Geräusch im Haus eine einleuchtende Erklärung gefunden.
    Katie sah aus dem Fenster. Zwischen den Bäumen konnte sie in einiger Entfernung die säuberliche weiße Reihe von Aggies Sommerhäuschen sehen. Vor einem der Häuser stand Judy Boomers gelber Kombi. Katie setzte sich an den Tisch. Sollte sie noch heute abend hinüberfahren, nachdem David gekommen war? Sollte sie bis morgen warten? Oder sollte sie zuerst David alles sagen und abwarten, was er meinte?
    Die Sonne versank hinter der Scheune, und es wurde merklich dunkler. Ober dem Hof lag nun der Schatten der Scheune und kroch bereits die Hauswand hoch und erfaßte das Küchenfenster. Die Zeit schien langsamer zu verfließen, obwohl Katie zunächst gar nichts bemerkte. Eine kleine Verzögerung des Herzschlages, des lehrmeisterlichen Schlages der Uhr im Obergeschoß. Es war, als würde die Zeit sich ausdehnen, in der Abenddämmerung zögern und die Nacht hinausschieben.
    Katie spürte es nicht, sie wurde ein Teil davon. Das Tagesende. Alle Hoffnungen, Ängste, sogar die Katastrophen blieben in einem unentzifferbaren Augenblick in der Schwebe, von der sich drehenden Erde eingelullt. Alles wurde zu einer Welt jenseits der Zeit, außerhalb der Zeit. Da flatterte etwas Dunkles und Geheimnisvolles auf, kaum wahrnehmbar, wie ein Seidentuch, das die Erinnerung liebkost. Vom Bachufer her hörte man Amselrufe. Lerchen ließen von der Futtersuche ab und verkrochen sich in ihre Nester im dichten Gras. Und dann erleuchtete ein schwacher Glanz, die Reflexion der Sonne im Fox Lake, einen Winkel der Küchendecke und verblaßte. Die Zeit trat ihre Herrschaft wieder an und spendete der Nacht Ermutigung. Katie ertappte sich an der Kellertür, das Ohr an die Tür gedrückt, angestrengt lauschend.
    Diesmal war es nicht das verzweifelte, beharrliche Schleifen, Kratzen der letzten Nacht. Diesmal war es gedämpft, lokalisierbar, zurückhaltend. Aber es war vorhanden – unmißverständlich und sicher –, hinter der versperrten Tür, unter der Treppe. Katie mußte sich am Türgriff festhalten, Papa konnte nicht unten im Keller sein. Das stand fest. Sie konnte hören, wie er verrottete Bretter am Getreidespeicher losriß, Hammerschläge auf Holz, das Quietschen herausgerissener Nägel. Ohne es zu begreifen, spürte sie etwas in sich wachsen, das selbst keine Furcht war, aber die Erinnerung an einen halbvergessenen Schrecken, ein Gefühl dafür, ein Verdacht wie das Rascheln des Windes im Gras. Gleichzeitig hatte es persönlichen Wert, so wie ein Knoten im Taschentuch, der an

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