Der Sommer der Toten
Tisch knalle, geht sein Kopf gleich mit, und steht da nicht eine Flasche, die ihn direkt ins Auge trifft. Junge, ich dachte, ich lach mir einen Doppelbruch.« Barney brach in Gelächter aus, wohl um den »Doppelbruch« zu demonstrieren. Er hielt inne, als Katie ganz langsam sagte: »Haha.«
Hercs Miene ließ Dankbarkeit erkennen, aber etwas in seinem Blick riet ihr, Vorsicht walten zu lassen.
Barney warf ihr unter halbgeschlossenen Lidern einen Blick zu. Er besagte, daß er sie bislang unterschätzt habe, und daß er von nun an auf der Hut sein würde.
»Na, ist doch nichts passiert, Herc?« sagte er mit falscher Freundlichkeit.
Herc scharrte mit den Füßen, nickte, schüttelte den Kopf, nickte wieder. So standen sie da, bis Barney sagte:
»Ich glaube, ich gehe wohl ein wenig Luft schnappen.«
Und das tat er denn auch, aber nur bis vor die Tür, wo er seine gewohnte Position auf dem umgedrehten Faß einnahm und sich an die Schaufensterscheibe lehnte. So konnte er alles hören. Und doch den Anschein erwecken, als lungere er bloß absichtslos herum.
Und so hörte er auch Katies Anruf mit.
Wenn dies das letzte Telefon im Ort war und Barney sich dauernd hier herumtrieb, dann wußte er über alles Bescheid, dachte Katie bei sich. Jedenfalls kannte er sämtliche Kontakte mit der »Außenwelt«. St. Alazara war auf diese Weise wieder »dicht« wie damals in den unzugänglichen alten Tagen, als eine dreißig Meilen lange Staubstraße die einzige Verbindung zur nächsten zivilisierten Gemeinde darstellte. Heutzutage waren die Leute natürlich motorisiert, aber kein Mensch schien sein Vehikel zu benutzen und irgendwohin zu fahren.
Der Apparat läutete viermal. Und dann mitten im fünften Schrillen meldete David sich. Er klang atemlos.
»Bist du noch da? In Minneapolis?«
»Natürlich. Du sprichst doch eben mit mir, oder?«
»Ich erwartete eigentlich … ich dachte, du würdest …«
»Schätzchen, tut mir leid, aber du kannst dir nicht vorstellen, was das heute für ein Tag war. Mein Klient wurde im Kreuzverhör weich. Und brachte Sachen vor, von denen er mir nie erzählt hatte. Behauptete, er hätte alles vergessen. Du lieber Gott! Und ich stand da wie der reinste Trottel. Na, ich konnte jedenfalls einen neuen Termin erreichen, nächste Woche. Ich mußte mich mit ihm den ganzen Nachmittag zusammensetzen und arbeiten. Und nachher, als ich eben gehen wollte, lud einer unserer Chefs zu einer Cocktailparty ein, mit der er ein paar Industriebosse beeindrucken wollte. Ich konnte nicht ablehnen. Er möchte, daß sie ihn zu ihrem Rechtsberater machen. Nachher bin ich gleich nach Hause …«
»Du fährst also jetzt weg?«
Pause. David überlegte, wie er es ihr beibringen sollte.
»Katie, es ist Viertel vor zehn.«
»Ich weiß.«
»Vor zwei würde ich nicht ankommen, vielleicht erst später. Ich möchte lieber gleich in die Federn kriechen und ganz zeitig in der Frühe losfahren, einverstanden?«
Ihre Enttäuschung mußte spürbar sein. Hercules machte ein mitleidiges Gesicht.
»Na gut«, sagte Katie schließlich leise.
»Wie geht’s denn? Vor allem deiner Mutter?«
Sie wollte ihm alles sagen, ihm sagen, daß alles schrecklich und dazu so seltsam war. Aber statt dessen sagte sie »Gut« und dann »Ich spreche von einem öffentlichen Telefon«.
»Ach, verstehe. Also bis morgen.«
»Ich kann es kaum erwarten.«
»Keine Bange«, sagte sie zu Hercules Rasmussen, ohne recht zu wissen, warum. Barney half ihr in den Wagen, wobei er ihren Körper genau begutachtete. Sein Lächeln beim Abschied fiel eine Spur zu hart aus.
Sie gab keine Antwort. Sie war gekränkt und wütend, ein wenig verängstigt.
III
Katie trat wie verrückt aufs Gaspedal, doch die alte Kiste schien sich kaum von der Stelle zu rühren. Steinchen und Schotterbrocken trommelten gegen Kotflügel und Unterseite, doch in einem Rhythmus, der so langsam war wie das Ticken einer Uhr. Der Wagen bewegte sich zwar vorwärts. Das mußte er. Doch im Straßengraben das Gras, die Halme, die dürren Bäume und Zaunpfähle glitten vorüber wie Traumsymbole, flackernd und verschwommen. Die Zeit schien ausgeschaltet, und eine Stille senkte sich herab, so süß und üppig, daß Katie ihr fast erlag, sich einer schrecklichen und reglosen Zeit ergab. Würde in dieser Zeit nicht auch sie selbst immer wieder erneuert und immer geliebt werden? Dann entsann sie sich wieder, wo sie sich befand, wohin sie fuhr und warum. Die Wirklichkeit kehrte zurück. Das
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