Der Sommer der Toten
keine Notwendigkeit, daß Katie geht«, warf er schnell ein, mit einem Unterton, der mehr als nur Besorgnis ausdrückte.
»Nein? Warum nicht? Wollen Sie Katie als Gratisköchin und -pflegerin? Was soll das? Eine neue Version des Ausbeutungssystems von Otto Ronsky?«
»Aber nicht doch. Ich versprach Katie, ich würde einen zweiten Arzt zu Rate ziehen, falls es ihrer Mama bis Freitag nicht besser ginge.«
»Freitag! So wie Doc Bates sie mit Schlafmitteln vollpumpt, grenzt es an ein Wunder, wenn sie es bis Freitag überhaupt noch schafft. Katie, ich glaube, wir holen Mama hier heraus, sobald ich zurückkomme.«
»Das werden Sie nicht«, sagte Papa mit seltsam beschwörender Stimme. »Das werden Sie nicht tun«, wiederholte er. »Wenn es Ihrer Meinung nach so wichtig ist, werde ich Bates abhalten, daß er ihr weitere Schlafmittel spritzt.«
»Das würdest du tun?« fragte Katie.
Papa nickte.
David blieb skeptisch.
»Ich brauche Katie«, sagte nun Papa gequält. Es war ihm peinlich, etwas zu brauchen. Und doch war nicht mißzuverstehen, daß er sie hier haben wollte. Er brauchte sie. Sie bei sich zu wissen, war es, was ihm wichtig war …
»Und was ist mit diesem halbverrückten alten Pfarrer? Diesem Mauslocher? Was hat der hier wieder getrieben?«
»Das ist Religion«, erwiderte ihr Vater mit warnendem Unterton. »Ich und Mama, wir haben ein Recht auf unseren Glauben.«
»Na, wenn eure Religion so ist wie das, was wir heute morgen hier zu sehen bekamen, dann ist sie obskurer als die der verrücktesten Sekten, von denen ich je gehört habe. Und jetzt sagen Sie bloß, daß Mauslocher dasselbe unheimliche Theater über Mamas Bett auch heute nachmittag inszeniert hat?«
Papa nickte nach einigem Zögern.
»Wozu soll dieser ekstatische Unsinn gut sein?« fragte David verächtlich.
Katie spürte, daß er ehrlich empört war. Und sie spürte seine wache Intelligenz. In gewissem Sinn fand sie es erregend. Er machte Fortschritte. Er fühlte sich Papa nicht mehr unterlegen. Das war gut. Aber sie hatten ja noch nichts Klares, nichts, was verstandesmäßig erfaßbar und lösbar war. Und wenn David sich in seinen Schlußfolgerungen überstürzte, würde er sich vielleicht in Irrtümer verbohren.
»Dieses Armgeschwenke und Kreuzschlagen und dieser Phrasenhokuspokus wird Mama nicht gesünder machen«, sagte David. »Was sie braucht ist …«
Papa sah ihn todernst an. David hielt inne.
»Woran man glaubt«, sagte Papa, »das braucht man. Das ist eben der große Unterschied. Wenn man glaubt, kann man alles ändern.«
»Sie haben den Verstand verloren«, sagte David fassungslos. Aber Papa lächelte bloß.
Samstagabend
I
An der Rückseite der Sommerküche bemerkte Katie ein über dem Bord schlampig angenageltes Stück Leinwand. Sie bereitete ihren zwei Männern Rührei und Schinken zum Abendbrot zu. War dieser Fetzen schon gestern da gewesen? Wenn ja, dann war es ihr nicht aufgefallen. Die Leinwand hing verdrückt und unansehnlich da wie ein alter Wandbehang. Zunächst dachte sie kaum darüber nach und hätte das Ding völlig vergessen, wäre es nicht ein so häßlicher Anblick gewesen.
Sie zog eine Ecke der Leinwand zurück und sah eine große Kerze vor sich, eine Zeremonienkerze in einem reichverzierten Messingständer. Auch die Kerze selbst war reich verziert: vergoldete Ährengarben, umgeben von kleinen Silbersternen. Und über diesen Symbolen noch eines. Eine Frauengestalt mit erhobenen Armen, so als erhöbe sie sich aus der Erde. Katie konnte sich an diese spezielle Kerze dunkel erinnern, irgendwie war da ein Zusammenhang mit Reverend Mauslocher, Sommersonnenwende … der Gedächtnisfaden lief zurück, verlor sich im Nebel und war nicht mehr weiter zu verfolgen.
Aber was sollte die Kerze ausgerechnet hier? Vielmehr die Kerzen. Sie hob das Tuch höher und zählte sieben Kerzenständer. Sieben. Ihr schauderte. In den hintersten Winkeln ihres Bewußtseins nahm die Erinnerung Gestalt an und durchbrach die Nebelwand. Die Kerzen. Ja, sie konnte sich erinnern. Als kleines Mädchen hatte sie diese Kerzen in der Kirche gesehen. Bei einer Beerdigung wahrscheinlich. Die hohen Kerzen hatten vor dem statuengeschmückten, grottenartigen Altar gebrannt, hatten den dunklen Sarg umgeben. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der erbarmungslosen Endgültigkeit, Blumengeruch … das waren die damit verknüpften Erinnerungen. Der Geistliche hatte sie bei Beerdigungen angezündet.
Sie rief David in die Sommerküche,
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