Der Sommer der Toten
Holzscheit packte und damit ausholte und …«
»David! Darüber spreche ich nicht. Du hast kein Recht … überhaupt kein Recht … ach … das ist das Abscheulichste …«
»Schon gut. Ich muß eben alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Das gehört zu meinem Beruf.«
»Aber doch nicht diese Möglichkeit! Ich weiß, daß Papa sehr eigen ist. Ich weiß auch, daß er ein wenig sonderbar …«
»Ein wenig!«
»… das sind auch die übrigen hier in der Gegend, aber ich bin bei Papa sicherer als … als vielleicht sogar in unserer Wohnung.«
David ließ sich das durch den Kopf gehen. Das mochte in Prozentsätzen und Wahrscheinlichkeitszahlen stimmen. Aber …
»Aber wenn du etwas Ungewöhnliches, etwas Gefährliches spürst, dann sieh zu, daß du hier wegkommst, versprich mir das. Nichts wie weg. Rüber zu Judy. Von dort kannst du anrufen. Mich. Ihren Vater in St. Cloud. Oder sogar Hercules. Jeden.«
»Na gut«, sagte sie nach einer Weile.
In diesem Augenblick, im Bett, in der Dunkelheit, erschien es unmöglich, daß ihnen etwas Furchterregendes – und schon gar nicht etwas Schreckliches zustoßen könnte. Von diesem Gedanken behütet, engumschlungen, schliefen sie ein.
Katie erwachte viel später, oder vielmehr sie wurde halbwach. Schlaf und Traum waren noch verwoben und unverletzt. Sie glaubte das undeutliche Schleifen, Flattern und Rascheln zu hören, wieder ganz schwach und weit entfernt. Die damit verknüpfte qualvolle Erinnerung versuchte erneut an die Oberfläche ihres Bewußtseins zu gelangen: Vorbote von etwas Namenlosem, etwas Dunklem, Unfaßbarem und Tiefem, so lauerte sie jenseits der Reichweite des Bewußtseins. Doch ihre Bedeutung blieb verborgen, und dann vermischte sich dieses Geräusch mit Davids Atem – oder war gar immer nur sein Atem gewesen. Der Schlaf gewann die Oberhand, und die Erinnerung zerfloß. Im Absinken lauschte sie in ihren Körper hinein und wußte beklommen, so wie man Dinge jenseits des banalen Tagesbewußtseins weiß, daß sich in ihr kein Leben regte. Die Uhr schlug eine dunkle Stunde, gefangen zwischen Mitternacht und Morgendämmerung, und fuhr fort zu ticken. Drei Generationen in einem Haus, unter einem Dach, gefangen in einem unwiederbringlichen Augenblick, gefangen in der eisernen Finsternis des Nordlandes. Die eine Generation im Sterben, eine im Traum dahintreibend, und eine, die darauf wartete, geboren zu werden.
Und die Zeit hielt alle drei umfangen.
Sonntagmorgen, 20. Juni
I
War denn hier in der ganzen Zeit niemand gestorben?
Nein, alle waren sie da wie immer, nur ein wenig älter geworden.
Christ Gorman, der Küster, stand im zugigen Vestibül von Reverend Mauslochers Kirche, den großen Knoten des Glockenseils in den gichtigen Händen, und wartete auf den Beginn des Gottesdienstes. Er war an die hundert Jahre alt, wenn man den Gerüchten trauen durfte, denen er nie entgegentrat. Er hatte die Glocken geläutet seitdem die Kirche stand, und die war, herrjeh, irgendwann in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut worden. Bei jeder Taufe hatte er geläutet, bei jeder Trauung hatte er geläutet; und wenn man einen Sarg das Kirchenschiff entlangtrug und alle schnieften und traurige Gesichter machten, dann läutete er die Glocken eben ein wenig langsamer und feierlicher.
Doch nach der Anzahl uralter Gemeindemitglieder zu schließen, hatte Christ die Totenglocken in den drei Jahren, die Katie fortgewesen war, nicht oft ertönen lassen.
»Ach, Katie«, sagte Christ heiser und nickte dazu so unverbindlich, als wäre sie nie fort gewesen.
Der alte Willis – der Tankstellen-Willis mit dem Hinkebein, der Judy eine Hure genannt hatte – war Kirchendiener und geleitete Ben Jasper und Tochter zu einer Bank im rückwärtigen Teil der Kirche. Papa ließ keinen Gottesdienst aus, und diesmal war er noch pünktlicher als sonst. Er hatte sich gewünscht, daß Katie ihn begleitete, und sie hatte widerstrebend nachgegeben und David bei Mama zurückgelassen, die wieder wach war und sich nach einem herzhaften Frühstück augenscheinlich wohlfühlte.
Katie hielt sich hinter ihrem Vater, während der alte Willis sie zu ihrem Sitz führte. Sie spürte die dreisten Blicke der Dorfbewohner auf sich. Sie hielt den Blick geradeaus über die rechte Schulter ihres Vaters gerichtet. Der kahle Schädel des alten Willis hüpfte auf und nieder, während er vor Papa her hinkte.
Sie beugten das Knie – Katie hatte beinahe vergessen, wie – und ließen sich
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