Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
Vom Netzwerk:
ausgegraben, einen, der an der Wand befestigt werden sollte. An der Seite eine Kurbel, um die Vermittlung zu erreichen. Draußen in der Küche hörte sie Reverend Mauslocher, der Papa mit sanften Worten zu beruhigen suchte. Sie hörte Robert, der dem Auto des Arztes nachkläffte. Auch das Gebell entfernte sich. Und es war ihre letzte klare Erinnerung.
    Die Zeit stand still und hüllte sie ein. Ihre Mutter saß aufrecht im Bett, auf Kissen gestützt, tot. Für sie hatte alle Zeit aufgehört. Für Katie noch nicht, auch wenn es so schien. Die Wirklichkeit der vergangenen Tage trieb weg von ihr und verschmolz mit Erinnerungsbildern, Andeutungen und Hinweisen zu einem Wirbel wortlosen Argwohns. Die Wirklichkeit selbst fiel ab von ihr. Sie konnte keinen Gedanken mehr fassen.
    Als erstes kamen ihr die hohen, schneebedeckten Berge in den Sinn und das kleine Dorf am wiesengrünen Berghang. Sie sah es klar vor sich und wußte plötzlich, daß es vor langer Zeit das Heimatdorf ihrer Mutter in Norwegen gewesen war. Und dann sah sie in kaleidoskopartiger Folge Szenen und Ereignisse, manche ganz klar, andere undeutlich, als handle es sich um eine Rekapitulation der Vergangenheit der Toten: die Überquerung des Atlantiks auf dem Schiff, der Hafen von New York vor einem halben Jahrhundert, ein endloser Zug, der immerzu westwärts fuhr, und dann Wagen, Pferde, Schreie und lange Tage mühsamer Plackerei auf dem Weg nach Norden. Und dann kamen die Bilder schneller, so wie das Leben schneller verfliegt. Ein Tag vergeht wie der andere, die Zeit verschwimmt, bis einem nur ein verwischter Eindruck bleibt: ein junger Mann, der sie umarmt, doch der junge Mann war nicht David … Ein Baby, sie selbst. Und jetzt Katrin, die auf das Kleine hinuntersah – die Zeit lief weiter – es war ein kleines Mädchen, eine junge Frau, sie, Katie, dann nichts mehr, ein Flügelflattern, das überwältigende Gefühl von Hilflosigkeit, Gefangensein, des Sinkens, Sinkens …
    Und dann plötzlich aufblitzende Farben, Rot und tiefes Schwarz. Das alles tanzte in Katies Gehirn und brachte sie wieder ins Bewußtsein zurück.
    Sie hatte ein Leben gesehen, das Leben ihrer Mutter.
    Und jetzt weinte sie, und weinte sehr lange.
    »Geht es dir jetzt besser?« fragte Reverend Mauslocher, der in der Tür stand. »Du solltest deine Mutter flach hinlegen …«
    »Raus!« rief sie. »Das erledige ich!«
    Unter Tränen drückte sie ihrer Mutter die Augen zu, entfernte die Kissen und legte die Tote flach aufs Bett. Erstaunt stellte sie fest, daß seit ihrer Heimkehr schon einige Zeit vergangen war. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Sie holte ein Laken aus der Wäschekommode und deckte die Tote damit zu. Dann setzte sie sich in einen Stuhl am Fußende des Bettes und erwartete leise weinend die Ankunft Dolph Pelsers.
    Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Sie dachte jetzt wieder in eingefahrenen Bahnen, dachte ans Begräbnis, an David, der den rätselhaften Ereignissen auf den Grund kommen wollte. Und sie dachte an den Zweiundzwanzigsten. Sollten sie es versuchen? Würde es nicht beinahe ein Sakrileg sein? Außerdem war sie womöglich zu durcheinander, und es klappte gar nicht …
    Und eben, als sie bei dieser Überlegung angelangt war, schnellte ihre Mutter im Bett hoch, die weitaufgerissenen Augen starr auf Katie gerichtet, den Arm anklagend ausgestreckt.
    Katie hörte jemanden aufschreien, und dann fiel sie. Alles wurde dunkel.

 
VI
     
     
    »Katie! Katie, so wach doch auf!«
    Die Frauenstimme klang erschrocken und gleichzeitig vertraut.
    Eine rauhere Stimme, eine Männerstimme sagte: »Sie kommt jetzt zu sich. Das muß ein Schock gewesen sein.«
    »Katie!«
    Die Stimmen entfernten sich, kamen wieder. Durch einen Dunstschleier, hinter dem unkörperliche Wesen lauerten und ihr winkten, arbeitete sich ihr Bewußtsein hoch.
    »Braves Mädchen!«
    »Katie!«
    Sie schlug die Augen auf. Zunächst sah sie nur Dunst, oder vielmehr die Erinnerung an Dunst. Dann formte sich Judy Boomers blondes Haar um deren rundes, besorgtes Gesicht aus.
    »Das muß ein Schrecken für dich gewesen sein, nicht?« fragte Doc Bates hinter Judy.
    Katies Verstand arbeitete fieberhaft. Sie lag auf der Steppdecke auf Mamas Bett.
    Mama war fort.
    Erschrocken versuchte sie sich aufzurichten. In ihrem Kopf drehte sich alles.
    Doc Bates half ihr, sich wieder hinzulegen. Er zeigte sein allerbestes Krankenbesuchsverhalten und war ganz freundliche Hilfsbereitschaft. Sie ängstigte sich vor ihm

Weitere Kostenlose Bücher