Der Sommer der Toten
Hügel hätte liegen müssen, waren flach, als wären die Särge vom hungrigen Land verschlungen worden.
Die Trauergemeinde war auch dieselbe, Menschen, die Katie schon immer gekannt hatte. Aber gestern waren sie heimlich erregt gewesen, geeint in einer unbekannten Erwartung. Heute waren sie sehr besorgt, ängstlich und angespannt. Und doch sahen sie besser aus als je zuvor, stärker, aufrechter. Die alten, geröteten Augen waren klar, die Blicke scharf und sicher.
»So wie wir sie leiblich kannten, so möge sie zum Licht auferstehen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Und so sollen wir alle auferstehen.«
»Möge sie den Weg bereiten!«
Die alten Dörfler schlossen im gemeinsamen Gebet versunken die Augen, während Reverend Mauslocher psalmodierte. Und ihre Antworten kamen so eindringlich, daß ihre Stimmen zwischen den Grabsteinen vibrierend zu schweben schienen. Und sie beobachteten Katie. Nicht mit dem verlangenden Begehren von gestern, nein, es war diesmal ein reserviertes, fast verwundertes Beobachten. Und doch vom Zweifel überlagert, als hätte sie eine geheime Erwartung nicht erfüllt.
»Und ihr Mann, Ben Jasper, einer der unseren, unser Nachbar und Freund und Gefährte, und vor allem unser Lebensmittler, möge er gesegnet sein im nächsten Leben.«
Was soll das? dachte Katie. Welches nächste Leben?
»Möge sie den Weg bereiten!« riefen die Leute.
Katie hatte gehofft, daß sich in der heißen Sonne die letzten Nachwirkungen von Doc Bates’ Spritze geben würden, doch schien eher das Gegenteil der Fall. Ihr Sehvermögen wurde unscharf, und sie konnte sich plötzlich nicht mehr an das Gesicht ihrer Mutter erinnern, nicht mehr an den Klang ihrer Stimme.
»Der zu Fleisch gewordene Staub wird abermals zu Staub, und wir werden erneuert.«
»Möge sie den Weg bereiten!«
Papa, der neben Katie stand, hielt die Augen fest geschlossen. Er sang so inbrünstig wie alle anderen. Alle, mit Ausnahme von Hercules Rasmussen, der zwischen Doc Bates und Barney stand – oder vielmehr gezwungen worden war, zwischen ihnen zu stehen. Auf Hercules Backe sah man eine Schürfwunde und knapp über dem Hemdkragen einen blauen Fleck. Er wich Katies Blick geflissentlich aus und rückte nervös den Kragen zurecht, damit man den Fleck nicht sah. Gleichzeitig aber wirkte er verbittert, stärker, entschlossener, aber auch verzweifelt.
»Und unsere Herzen sind mit unserer geliebten Schwester Katrin Jasper immerdar und mit ihrer Tochter Katherine, der Erbin des Lebens, das wir heute in die Erde senken.«
Katie spürte eine Vielzahl von Blicken, merkte plötzlich, daß Mauslocher ihren Namen ausgesprochen hatte.
»Möge sie den Weg bereiten«, sangen die Menschen und lockerten den Griff ihrer Greisenblicke.
»Und wir sind der Erbin Katherine in Liebe zugetan.«
»Möge sie den Weg bereiten!«
Jetzt konnte sie wieder klarer denken. Da stand Hercules mit zwei Abschürfungen, die sicher nicht von einem »kleinen Kräftemessen« stammten. Und »Erbin«? Sicher, in einem gewissen Sinn. Sie überlegte, fieberhaft. Setzte Mamas Tod dem »Plan«, von dem Hercules ihr erzählt hatte, ein Ende?
Verängstigt sah sie ihren Vater an. Sicher war die Verzweiflung ihr vom Gesicht abzulesen, denn er griff nach ihrer Hand.
Die Menschen nahmen es kopfnickend zur Kenntnis. Ja, es paßte wunderbar. Vater und Tochter, der Gattin und Mutter beraubt, waren einander eine Stütze.
Außerdem war klar, daß man Hercules nicht wieder in Katies Nähe lassen, würde, gleichgültig, wieviel oder wie wenig er wußte. Aber was sollte denn noch passieren? Sollte am Ende ihr etwas passieren? Sie würde auf der Hut sein! David! Nur noch acht Stunden, vielleicht ein wenig länger, und er würde da sein.
Barney, Polizist und ehemaliger Baseballstar, schien sie dauernd zu beobachten, doch war sie dessen nicht sicher. Er hatte seine Sonnenbrille nicht abgenommen, in der sie zwei verkleinerte Spiegelbilder des Sarges sehen konnte, und dazu seltsam verzerrt Köpfe und Gesichter der ihn umstehenden Menschen.
»Und jetzt«, fuhr Mauslocher in einem das Ende andeutenden Ton fort, »übergeben wir dich, Katrin Jasper, der guten Erde, die wir lieben und die du liebst. Denn es ist Zeit. Und wir haben den Glauben, daß wir zu dir kommen, wenn die Hohe Heilige Zeit sich erfüllt.«
Er schwenkte den Weihwasserbehälter über dem Sarg. Ein paar Tropfen fielen auf das blanke Metall und rollten daran herunter wie Regentropfen auf der spiegelblanken Kühlerhaube eines
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