Der Sommer der Toten
Droben im Oberstock tickte die Uhr die Zeit weg, die Minuten bis zu Davids Ankunft. In stillschweigender Übereinkunft vermieden sie und Papa es, von Mama zu sprechen. Ein Leben war zu Ende gegangen. Heute war der zweiundzwanzigste Juni, der Tag der Sommersonnenwende. Und die Nacht – sie war der Schaffung neuen Lebens geweiht. Aber auch das schien jetzt verloren. Außer Frage. Sie war zu aufgeregt. Ihr einziger Wunsch war es, David möge schleunigst kommen und sie von hier wegholen.
Papa ging hinaus, um sich an die Arbeit zu machen, und ließ sie allein mit ihren Gedanken. Es war das Allerletzte, was sie sich wünschte. Das ganze Haus machte sie unruhig, und die Stille lastete schwer auf ihr. Die dunklen Baumschatten fielen aufs Haus, machten es kühl und still. Und da war noch immer die verschlossene Kellertür und die Erinnerung an seltsame, unbeantwortete Fragen.
Sie ging auch hinaus, durch die Hintertür. Sie lief über den Rasen und watete durch das dichte Gras unter dem Windschutz, das noch mehr unter Unkraut und Blumen erstickte als vor ein paar Tagen. Längs des Baches jagte Old Robert wie in seiner Jugend. Es war eine Vipernatter, die er jagte, und deren schleimige Haut er wütend ausspucken würde, sobald er sie gefaßt hatte, aber das spielte keine Rolle, es ging um den Sport an sich. Und sobald die Schlange den Verfolger spürte, schoß sie wie ein dickes gefärbtes Holzstück in die Höhe und erwartete mit wiegendem Kopf den Widersacher. Old Robert heulte enttäuscht auf und trottete zur Scheune und zu Papa.
Katie folgte dem Windschutz bis zur Ecke und schlich hinter den Geräteschuppen. Der Fox Lake leuchtete im Sonnenschein herüber, und die sonnenwarme Erde duftete nach Gras und Wachstum. Unglaublich, wie dicht hier Buschwerk und Gras wucherten. Immer wieder mußte sie zurückschnellenden Zweigen ausweichen. Und dann fiel ihr etwas auf: das hölzerne Vogelhaus war von seinem Standplatz auf dem alten Zaunpfahl verschwunden. Heruntergefallen? Sie sah sich um und konnte es nicht entdecken. Hatte Papa sich darangemacht, es auszubessern, wie alles andere auch?
Wieder schob sie die Bretter auseinander und tat einen Schritt hinein in das düstere Museum mit den Relikten aus alter Zeit. Da stieß ihr Fuß gegen etwas. Das Vogelhaus. Sie wollte es eben mit einem Tritt aus dem Weg befördern, als ihr daran etwas auffiel. Über dem kleinen runden Einschlupfloch schimmerte es metallisch. Sie bückte sich und besah sich die Sache näher. Es war eine bewegliche Vorrichtung aus Maschendraht. Die Sitzstange war mit einem Drähtesystem verbunden, das wiederum mit einem Maschendrahtvorhang über dem Schlupfloch verbunden war. Ein einfliegender Vogel würde sich auf die Stange setzen. Die Drähte würden angezogen, der Maschendraht würde das Schlupfloch abschließen. Und es hatte mindestens einmal funktioniert. Auf dem Boden lagen verstreut rote und schwarze Federn.
Das war kein Vogelhaus mehr, sondern eine Falle.
Später – eigentlich zu spät – würde sie sich an diesen Augenblick als jenen Zeitpunkt erinnern, da sie hinter all die Rätsel gekommen war. Aber das stimmte nicht ganz. Sie ahnte zwar sofort, was das Vogelhaus bedeutete. Doch sie wollte es sich noch nicht eingestehen.
Katie richtete sich auf und sah sich im Schuppen um. Alles war da: das alte Werkzeug, das Pferdegeschirr. Und der alte Studebaker! Zuerst wollte sie ihren Augen nicht trauen. Im staubigen Zwielicht schimmerte und glänzte der alte Wagen. Die Ziegelstapel, auf denen er gestanden hatte, waren verschwunden, die Reifen waren nagelneu. Sie ging näher heran und ließ die Hand über das schimmernde Metall gleiten. Die Verwandlung war vollkommen. Wollte Papa den Wagen nach langen Jahren verkaufen? Oder hatte er ihn repariert, weil sein jetziger Wagen nicht richtig lief? Vielleicht hatte er wirklich einen Defekt? Sie konnte sich vor Staunen nicht fassen. Sogar die Polsterung war erneuert worden.
Da bewegte sich etwas im Wagenfond. Ein bleiches Gesicht drückte sich mit offenem Mund an die Fensterscheibe wie in einem stillen Aufschrei.
V
»Die … die werden mich suchen, das weiß ich«, jammerte Hercules. Er hörte nicht auf zu zittern.
Dabei bestand keine Gefahr, daß Herc etwa zu laut sprach. Die Worte des mickrigen Ladenbesitzers waren kaum hörbar.
»G-g-guter Gott, ich dachte schon, ich wäre geliefert.«
Sie brachte ihn dazu, sich auf das Trittbrett des Wagens zu setzen. Ihr Herz klopfte noch immer wie wild. Hercs
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