Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)
Driftwood verschränkte die Arme vor der Brust und verdrehte die Augen.
Rolo dachte über das Angebot nach. „Einverstanden“, sagte er. „Aber meinem Onkel passiert nichts. Wir lassen ihn einfach da liegen. Keine vermeintlichen Heilzaubereien oder ähnlicher Unsinn, wo ihr ihn ganz aus Versehen in ein Brot verwandelt.“
„ Abgemacht“, freute sich Socke. Augenblicklich fiel Rolo zu Boden.
Kapitel 20
Die Kutsche holperte den schmalen Pfad entlang. Kinsella hielt die Zügel nur locker in den Händen, die Dahus kannten den Weg. In Grellons Kopf schlugen die Gedanken Purzelbäume.
Vivianne. Wie fremd ihm dieser Name geworden war. Warum trat sie jetzt wieder in sein Leben? Nicht zuletzt die Angst vor neuen Verletzungen setzte ihm zu. Hatte er nicht schon genug Naben auf seiner Seele? Die Zeit heilt alle Wunden. Wirklich alle? Trotz allem war sie Rolos Mutter.
Ist Rolos Mutter! Und meine Frau. Wenn auch nur auf dem Papier.
Grellon hatte sich nie bemüht, die Ehe annullieren zu lassen. Seit ihrer Trennung vor zwölf Jahren kein Lebenszeichen. Nicht einmal nach Rolo hatte sie sich erkundigt. Oder den Kontakt gesucht, wie es jede anständige Mutter getan hätte. Insgeheim war er froh darüber. Was hätte er getan? Es verhindert? Das hätte einen noch tieferen Keil zwischen Rolo und ihn getrieben, als es die unglücklichen Entwicklungen der letzten Tage getan hatten. Sollte dies alles das Verhältnis zu seinem Sohn nachhaltig verschlechtern, er würde es sich nie verzeihen. Und was noch vor ihm lag, daran traute er sich kaum zu denken. Im Moment lag dort Neunseen. Die Stadt wirkte im Sternenlicht wie aus dem Modellbaukasten. So klein und zerbrechlich. Grellon ermahnte sich selbst, sich auf das bevorstehende Treffen zu fokussieren. Es hatte niemand was davon, wenn er sich selbst zermürbte.
„ Wo treffen wir Adalar?”, fragte er, um sich von seinen finsteren Gedanken abzulenken.
„ Im Rathaus”, antwortete Kinsella.
„ So ein offizieller Rahmen für ein kleines Gespräch?“
„ Der Junge, Kjeir, ist auch im Rathaus untergebracht. Falls sich Fragen auftun. Und ich bin sicher, es wird Fragen geben.”
Kinsella lenkte die Kutsche an den Straßenrand. Die Dahus mussten nicht angebunden werden, sie liefen auf die Wiese und hielten ihre Nasen in den Wind. Das Öhr war stark bewacht. Grellon zählte nicht weniger als vierzehn Wachen. Zwei Neolinga waren dabei.
Grellon war nicht wohl in seiner Haut, aber niemand sprach ihn an oder hielt ihn auf. So betraten sie die Stadt und folgten der Straße in Richtung Marktplatz. Hinter der Brücke bogen sie ab und erreichten das geschäftige Viertel. Die hellen Schaufenster ließen die Passanten lange Schatten werfen. Insekten umschwirrten die Laternen. Zahlreiche Neunseener trugen ihre Einkäufe in Beuteln und Körben umher. Trotz aller Vorbehalte gegen das Nachtschattental, die einfache und ehrliche Art der Leute gefiel Grellon. Und genau so schätzte er die Handwerkskünste, die hier ausgeübt wurden. Kinsella erwiderte jeden Gruß freundlich. Viele Glückwünsche gab es für ihren gelungenen Auftritt als Bendith Geserith. Grellon war froh, dass sie ihn aus den Gesprächen raus hielten. Er nutzte die Gelegenheit und warf ein Auge auf die Auslagen in den Schaufenstern. Dieser Laden führte alles, was die neuen Schüler der Farralot benötigten. Er nahm sich vor, bald mit Rolo herzukommen. Sie ließen das geschäftige Viertel hinter sich und folgten der breiten Allee seewärts. Das Panorama der Berge war ein dunkles Schemen im schwarzen Nachthimmel über dem Wasser. Zwei Jungs kamen ihnen entgegen. Grellon kamen sie bekannt vor. Auch sie erkannten ihn wieder. Doch als sie Kinsella bemerkten, grüßten sie nur freundlich, und gingen rasch weiter. Kinsella nahm das lächelnd zur Kenntnis.
„ Das waren Karl Creinveld und sein Freund Onno. Zwei Schlitzohren sind das.”
Der Marktplatz zeigte ohne die Stände des gestrigen Festes seine ganze beachtliche Größe. Von der Seeseite wehte eine kühle Brise. Kinsella zog ihr Cape fester um die Schultern und Grellon schloss seinen Anorak. Die Takelagen der ankernden Boote klapperten im Wind.
Das Rathaus überragte alles mit seinem mächtigen Glockenturm. Den Dachfirst zierte die Figur eines bärtigen Mannes mit spitzem Hut. Er schwang einen Stab. Nein, einen Zauberstab, korrigierte sich Grellon in Gedanken. In Nischen im dunklen Mauerwerk des Hauses standen Skulpturen. Elfen und Zwerge, Ritter und Drachen. Aber auch
Weitere Kostenlose Bücher