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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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empfinde keine Zuneigung für ihn.«
    »Du könntest dich doch mit der Zeit an ihn gewöhnen. Vielleicht nach und nach …«
    »Verzeih, aber du willst mich offensichtlich nicht verstehen.« Enrica seufzte tief; die ganze Familie schaute zu ihr hinüber, niemand rührte die Teller mit der dampfenden Pasta an. »Ich weiß, dass ich ihn nie so gern habenwerde, wie eine Frau den Ehemann gern haben soll. Wie du Vater gern hast.«
    Die Mutter wartete mit halboffenem Mund: »Und warum nicht?«
    »Aus einem ganz einfachen Grund, Mama: Ich liebe jemand anderen.«
    Das sagte sie im friedlichsten Ton der Welt. Dabei schlug die Nachricht ein wie eine Bombe. Maria wandte sich an ihren Mann:
    »Und du? Du als ihr Vater, dem das Schicksal seiner Tochter am Herzen liegen müsste, was sagst du dazu?«
    Giulio richtete sich auf, schaute seiner Frau fest in die Augen und sagte ruhig:
    »Ich sage, dass dieses Ragù garantiert vorzüglich schmecken wird. Schönen Sonntag und guten Appetit.«
    Und er begann zu essen.

    XLVII    In der Stille des Sonntagnachmittags beobachtete Ricciardi den Mörder von Adriana Musso di Camparino.
    Träge bewegte er sich beim Erledigen kleiner Aufgaben durch die Hitze. Einmal hob er den Blick gen Himmel, als ein fernes Grollen ankündigte, dass das Wetter sich endlich ändern würde; dann schüttelte er den Kopf, seufzte und pflückte weiter trockene Blätter von den Pflanzen ab.
    Ricciardi fühlte sich nicht länger benommen. Auf dem Weg von Santa Lucia hatte sich das Chaos in seinem Kopf gelichtet, während er spürte, wie sich das übliche Wunder vollzog: Mit dem neuen Schlüssel in der Hand nahm jedesPuzzlestück seinen Platz ein, fügte sich ein Teil ins andere, um gemeinsam ein endlich in jeder Hinsicht plausibles Bild zu ergeben. In gewisser Weise hatte er auch sich selbst verziehen. Zwar war er oberflächlich und unaufmerksam gewesen, doch tief in seinem Inneren hatte ihn die Sache nicht losgelassen; er hatte die Mordermittlungen nie wirklich abgeschlossen. In Wahrheit war er nämlich nie ganz davon überzeugt gewesen, dass das Verbrechen sich so ereignet hatte, wie alle glaubten.
    Unterwegs hatte er alle Ereignisse in der richtigen Reihenfolge rekonstruiert. Jetzt wollte er den Rest erfahren: die Gründe, das Warum. Er wollte die Leidenschaften und Emotionen kennen, die um die tote Herzogin gekreist waren.
    Ricciardi näherte sich dem Mörder, der ihn nun ebenfalls entdeckte. Er schien weder überrascht zu sein noch an Flucht oder sonst etwas Unüberlegtes zu denken. Der Kommissar nickte ihm zum Gruß zu und setzte sich auf eine Marmorbank. Peppino Sciarra, der Pförtner des Hauses Camparino, nahm seinen zu großen Hut ab und ließ sich neben ihn auf die Bank fallen.
    Eine Weile schwiegen sie beide. Ganz in der Nähe besangen einige Stieglitze von einem Fenster aus das Ende des Sommers. Ricciardi begann zu sprechen:
    »Als die Capece gestand, glaubte ich ihr. Alle glaubten ihre Geschichte – zu Recht, denn es war alles wahr. Aber etwas passte nicht, weder zu dem, was die Capece erzählt hatte, noch zu ein paar anderen Dingen, die wir gefunden haben. Doch die Frau hatte gestanden, Musso hatte ein Alibi, der Reporter auch und der neue Liebhaber wäre sicher nicht unbemerkt geblieben. Also war für uns alle klar: Es war die Capece, Punktum. Aber das stimmt nicht.«
    Sciarra starrte vor sich hin, mit gebeugtem Kopf, als zöge das Gewicht seiner riesigen Nase ihn nach unten.
    Ricciardi fuhr fort:
    »Es gab Zeichen am Körper der Herzogin: gebrochene Rippen, abgebrochene Fingernägel. Und dann war da noch das Kissen auf ihrem Gesicht. Die Herzogin lag im Sterben. Sie rang mit dem Tod, röchelte – es war kein Schnarchen, das die Capece gehört hat, als sie auf sie schoss.«
    Der Pförtner legte sich seine zitternde Hand auf die Augen. Ricciardi sah ihn nicht an, während er seine Argumentation kühl und distanziert fortführte:
    »Sie starb, weil sie dabei war zu ersticken. Der Schuss in die Stirn hat uns abgelenkt, wir haben nicht begriffen, dass das Schicksal der Herzogin in Wahrheit schon besiegelt war. Doch wer hat sie ermordet?«
    Jetzt drehte er sich zu Sciarra um, der seine Augen mit der Hand verdeckte. Er schien nicht einmal zu atmen.
    »Wir hätten darauf kommen können. Zumindest ich. Alle Punkte waren mir bekannt. Die Kraft des Mörders war die Kraft der Verzweiflung; es gab weder Wut noch Zorn. Er hat nicht getobt, sich nicht an der Leiche vergriffen. Er kämpfte um sein Leben, hatte

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