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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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freien Willen retten. Die Sünde zerbricht die Kette, sie trennt uns von Gott und lässt zu, dass wir in die Hölle und in die Verdammnis stürzen.«
    Ricciardi bemerkte, wie ihn erneut Unbehagen beschlich. Er spürte plötzlich sein Herz heftig schlagen, als sei er einer Ohnmacht nahe. Rasch lehnte er sich gegen die Säule neben ihm, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Was geschah bloß mit ihm?
    »Die Sünde zerbricht das wichtigste Glied der Kette, den Ring, der nicht ersetzt werden kann, und ohne ihn wird die Verbindung aufgelöst: Es existiert keine Kette mehr, es gibt nur noch zwei nutzlose Stummel. Das Wichtigste ist der nun fehlende Ring. Durch die Sünde haben wir den Ring weggenommen.«
    Ricciardi blieb der Mund offen stehen: Vor seinen Augen nahm die Wahrheit in ihrer klarsten und einfachsten Form Gestalt an. Er hatte verstanden. Jetzt hatte er alles verstanden.
    Während Don Pierino von der Kanzel hinabstieg und zum Altar zurückging, bahnte sich der Kommissar einen Weg durch die Menge der Gläubigen. Er kam sich vor wie ein Esel, ein ausgemachter Idiot, der das Offensichtliche nicht zu sehen vermocht hatte.
    Niemand achtete auf ihn, schien ihn zu bemerken, als er sich durch das allgemeine Gedränge gegen den Strom vorankämpfte. Dabei kam ihm Sofia Capece in den Sinn, die überzeugt war, durch eine göttliche Vorsehung unsichtbar geworden zu sein: ein Todesengel.
    Vielleicht hatte die Frau in ihrem Wahnsinn recht. Die Überbringer von Tod und Verdammnis waren tatsächlich unsichtbar.
     
    Die Colombos bereiteten sich aufs Mittagessen vor, doch es lag etwas in der Luft, irgendetwas stimmte nicht.
    Schuld waren weder die Schwüle noch das trübe Licht,das von draußen hereinfiel; es war mehr eine Frage der Atmosphäre. Sogar die Kinder, die sonst munter kreuz und quer durcheinanderplapperten, schwiegen und sahen sich fragend an. Es gab einen Grund dafür.
    Der Grund war Enrica.
    Für gewöhnlich erfüllte die ruhige junge Frau die Küche lächelnd mit einer friedvollen und geselligen Betriebsamkeit und war in gewisser Hinsicht die Seele der Familie. Heute allerdings wirkte sie wie das Vorzeichen eines drohenden Unglücks: Ihre Augen waren geschwollen, die Haare in Unordnung, die Wangen gerötet.
    Es war offensichtlich, dass sie geweint hatte, allein in ihrem Zimmer, das sie seit dem Morgen nicht verlassen hatte. Mutter und Schwester, die durch dieses ungewöhnliche Verhalten beunruhigt waren, hatten an ihre Tür geklopft, doch nur eine einsilbige Antwort erhalten. Daraufhin hatten sie das Mittagessen allein zubereitet und sich dabei immer wieder schweigend und besorgt angesehen.
    Was Giulio betraf, so zeichnete sich in seiner Miene die übelste Laune ab. Er war nicht bereit, seine Tochter weiter so offensichtlich leiden zu sehen, und davon überzeugt, den Grund für ihren Schmerz zu kennen. Er hatte nicht sein Leben lang gearbeitet, um dann gezwungen zu sein, seine Enrica zu einer Zukunft zu verurteilen, die ihr zuwider war. Falls nötig, würde er sie so lange unterhalten, wie sie wünschte, und ihr später genug hinterlassen, damit sie davon in Würde leben konnte. Wenn seine Frau das nicht verstehen wollte, Pech für sie.
    Gerade als er die Gabel ablegen und seine Gedanken laut äußern wollte, kam Enrica ihm zuvor und sagte ruhig und sanft:
    »Mama, ich weiß, dass du mein Bestes willst und dich sorgst, weil ich in meinem Alter noch nicht verlobt bin.«
    Einer der jüngeren Brüder verbarg ein nervöses Kichern hinter der vorgehaltenen Hand und fing sich einen bösen Blick des Vaters ein. Enrica fuhr fort:
    »Aber ich bitte dich zu verstehen, dass ich, gerade weil ich erwachsen bin, sehr gut weiß, was ich von meinem Leben erwarte. Und auch, was ich nicht erwarte. Mama, bitte sei nicht böse, aber ich möchte diesen Mann, Sebastiano Fiore, nicht wiedersehen.«
    Der Satz fiel mitten in eine Grabesstille. Durchs Fenster war ein entferntes Donnern zu hören, das klang wie ein vorbeifliegendes Flugzeug.
    Maria warf ihrer Tochter einen flammenden Blick zu, doch das Mädchen erwiderte ihn mit der gewohnten ruhigen Entschlossenheit. Also versuchte die Frau es in versöhnlichem Ton:
    »Warum sagst du das? Hat er es dir gegenüber an Respekt fehlen lassen oder stimmt etwas nicht mit ihm? Glaubst du, du verdienst etwas Besseres? Gefällt dir seine Familie nicht? Oder …«
    Enrica hob die Hand, um den Fragenkatalog der Mutter zu unterbrechen.
    »Nein, Mama. Das ist es nicht. Es ist viel einfacher: Ich

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