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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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werdet keinen Fuß mehr in dieses Haus setzen. Hier ist kein Platz mehr für euch.‹ Verstehen Sie, Commissario? Unser Zuhause. Ich sah wieder den Wagen vor mir, die Mäuse, den Regen. Ich dachte an meine Jüngste, die das Leben auf der Straße nie kennengelernt hatte. Ich sagte zu ihr: ›Bitte, haben Sie doch Mitleid!‹ Und sie erwiderte: ›Geh, oder ich schreie.‹ Ich begriff nichts mehr; von draußen hörte man das Fest, es waren noch eine Menge Leute da. Was für eine Schande, eine schreckliche Demütigung hätte uns erwartet! Da habe ich ihr das Kissen ins Gesicht gedrückt.«
    Ricciardi schwieg, während er sich die Szene vorstellte.
    »Es kam zum Kampf, die Herzogin hat sich gewehrt.«
    Sciarra starrte ins Leere, völlig versunken in das Verbrechen, das er nun erneut durchlebte.
    »Mit Händen und Füßen, wie eine Katze. Sie hat getreten und gekratzt. Zum Glück hatte ich die Uniformjacke an, sonst wär von meinen Armen nicht viel übrig geblieben. Irgendwann bewegte sie sich nicht mehr; sie hat aber noch geatmet, zumindest kam es mir so vor. Ich habe die Schlüssel vom Boden aufgehoben und sie in die Schublade gelegt, dann bin ich gegangen. In meiner Wohnung hab ich dann gemerkt, dass ich noch das Stück Käse in der Hand hielt. Meine Frau fing an zu weinen, sie weint jetzt noch.«
    Ricciardi schüttelte den Kopf. So unglaublich es schien, war doch der Hunger das Tatmotiv gewesen. Nicht die komplizierte Liebe mit ihren zahllosen Wegen, die zum Verbrechen führten: Wut, Besitzanspruch, Eifersucht, sondern ganz schlicht und einfach der Hunger, ein elementares, quälendes Bedürfnis.
    Mittlerweile lag der Hof fast im Dunkeln; feuchte Abendluft hatte sich auf die Stadt gesenkt. Leichte Schritte näherten sich, und Ricciardi erkannte die beiden Sciarra-Kinder, die Hand in Hand herangekommen waren.
    »Papa? Mama fragt, ob Sie nicht hochkommen?«
    Der Junge klang besorgt, wahrscheinlich, weil Ricciardi dabei war: Was konnte dieser seltsame Herr von seinem Vater wollen? Sciarra antwortete:
    »Doch, doch, geht nur vor. Sagt Mama, dass … sagt ihr, ich komme, sobald ich kann.«
    Die Kinder gingen nur ungern; vorher knickste das Mädchen noch vor Ricciardi.
    »Schöne Kinder, nicht, Commissario? Sie helfen mir auch, alle kleineren Arbeiten übernehmen sie. In der Schule sind sie die Besten. Wer weiß, wo sie hingehören? Und wer weiß, was jetzt aus ihnen wird.«
    Ein heftiger Donner grollte und Wind kam auf. Ricciardi schauderte. Hunger, dachte er. Und die Capeces, die beiden Kinder, die jetzt ohne Mutter sind, mit einem Vater leben werden, den sie kaum kennen und dem sie jeden Tag ein wenig mehr verzeihen müssen, vielleicht nie ganz. Der Herzog, der in seinem Bett dahinsiecht, Achille und Ettore und ihre Liebe ohne Hoffnung. Und Sofia Capece, in einem dunklen Zimmer vom Wahnsinn umnachtet, in dem sie vielleicht den Rest ihres Lebens verbringen würde. Wie viele Opfer hatte der Mord der Herzogin gekostet? Wer hatte sie im Grunde getötet? Vielleicht genügte der Schuss der Capece. Vielleicht genügte der Todesengel.
    Für Capeces Kinder war es zu spät; für Sciarras Kinder noch nicht. Das Gewissen regte sich gegen den Gerechtigkeitssinn. Ricciardi gab seinem Bauchgefühl nach.
    »Dein Kerker werden deine Kinder sein, Sciarra. Wenn du zulässt, dass es mit ihnen übel endet, wirst auch du übel enden. Ich spreche dich nicht frei, denn das steht mir nicht zu. Doch deine Kinder brauchen dich, und sie kommen vor dem Recht.«
    Sciarra hatte den Blick nicht vom Boden gehoben.
    »Ich kann mir selbst nicht verzeihen, Commissario. Weder hier noch im Gefängnis werde ich mir je verzeihen. Die Herzogin wird mir jede Nacht meines Lebens im Traum erscheinen. Jetzt weiß ich, wo ich hingehöre. Sie haben es mir gesagt. Ich gehöre zu meinen Kindern.«
    Als Ricciardi fortging, unter den ersten Regentropfen, saß der Mann noch immer da und starrte zu Boden.

    XLVIII    Schon am Tag zuvor hatte Rosa den bevorstehenden Wetterumschwung in den Knochen gespürt – einer der Vorteile des Alters, so wie die Weisheit. Sie hätte allerdings gern darauf verzichtet. Während sie sich vor der Spüle den schmerzenden Ellbogen rieb, dachte sie wie üblich an Ricciardi.
    Er war spät nach Hause gekommen, ein wenig nass vom ersten Regen, sein Gesichtsausdruck noch schwermütiger als sonst. Schweigend hatte er gegessen, auf ihre Fragen nur einsilbige Antworten gegeben. Ach je, es war so schwer, ihn zu verstehen, bei seiner

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