Der Sommer des Commisario Ricciardi
enttäuschen, weshalb er sich müde in Richtung Meer begab. Auf dem Weg dorthin dachte er an dies und das: Livia und ihren Entschluss zu bleiben, Enrica und das geschlossene Fenster, Adriana und ihr trauriges Schicksal. Ihm fiel das Buch ein, das er gekauft und versteckt hatte, und er fragte sich, ob er je den Mut haben würde, es hervorzuholen und zu lesen. Auch dachte er an seine Kinderfrau, die zum Abschied lächelnd bemerkt hatte, er habe wohl ein Rendezvous, da er sonntags ausgehe, vielleicht mit jemandem von außerhalb? Die Frau musste telepathische Fähigkeiten haben oder einen unbekannten Informanten. Er war nicht weiter darauf eingegangen.
XLVI Man erreichte die Kirche über eine doppelte Freitreppe, auf der es von Bettlern nur so wimmelte. Um ein Almosen zu erbitten, klammerten sie sich an die Kleider der Vorübergehenden. Musikanten und fliegende Händler bevölkerten die Straße und erfüllten die Luft mit einem schrägen Konzert aus Rufen und verstimmten Instrumenten.
Auf dem Bürgersteig konnte man den Madonnenmalern mit ihren von der Kreide bunt gefärbten Händen und den verschwitzten, konzentrierten Gesichtern bei der Arbeit zusehen. Ihre wunderschönen Gemälde erinnerten an die Geschichte der Madonna della Catena, das Bild der Heiligen Jungfrau, das einst bei einem Unwetter in einer mit Ketten gesicherten Kiste an den Strand von Santa Lucia gespült worden war. In einem plötzlichen Anflug von Ehrfurcht vor der Kunst gaben die Leute sorgsamacht, nicht auf die Figuren und Landschaften zu treten, welche an diesem Tag die Straße schmückten.
Ricciardi kämpfte sich mühsam zum Eingang des Gotteshauses durch; mehrmals dachte er daran, seinen Plan aufzugeben und umzukehren. Doch wo er schon einmal so weit gekommen war, wollte er sich wenigstens kurz bei Don Pierino zeigen, um ihn zu grüßen, und dann gehen.
Die Messe hatte gerade erst begonnen, das einzige Kirchenschiff war brechend voll. Die Luft war schwer vom Weihrauch, von den vielen Blumen, die den Hauptaltar und die Nebenaltäre schmückten, und vom Schweiß der vielen zusammengedrängten Menschen. Don Pierino, dem zwei Messdiener zur Hand gingen, stand oben auf der Kanzel. Er sprach von dem Feiertag.
»Wir feiern heute das Fest der Madonna della Catena, der wir alle sehr ergeben sind. Wir sehen sie hier auf diesem sehr alten und dunklen Bild; die Gestalt ist kaum zu erkennen. Es hat einen langen Weg bis zu uns zurückgelegt und verdient all unsere Liebe. Heute möchte ich allerdings nicht über die Madonna sprechen, sondern über die Kette.«
Viele der Gläubigen schauten sich verblüfft an: Worauf wollte der Pastor hinaus? Bei der Prozession würden sie doch wohl die Madonna tragen und ganz sicher nicht die Kette. Nach einer Pause fuhr Don Pierino fort:
»Ketten bedeuten für uns vor allem etwas Schlechtes: Wir denken an die Ketten der Sklaverei, die Ketten der Gefangenschaft. Es gibt aber auch gute Ketten, wie diejenige, die unsere Madonna in ihrer Kiste geschützt hat, so dass sie vor nunmehr fast einem Jahrhundert bis zum Strand von Santa Lucia gelangen konnte. Doch die wichtigste Kette, die beste, ist diejenige, die den Menschen an Gott bindet, der ihn nach seinem Abbild erschaffen hat.«
Ricciardi konnte nicht umhin, den Worten des Priesters gebannt zu lauschen. Er war nicht gläubig und der Ansicht, dass so etwas in seiner Lage auch gar nicht möglich war, doch der Glaube war ein Segen, den er sehr beneidete, ein Trost für die Glücklichen, die ihn besaßen.
»Die Kette, die Gott mit dem Menschen verbindet, ist stark. Sie widersteht allen Unbilden der Natur und des Lebens. Einer Kette zwischen Vater und Sohn kann der Zahn der Zeit nichts anhaben, sie rostet nicht. Gott wird diese Kette niemals sprengen; um sie zu festigen, opferte er sogar seinen einzigen Sohn.«
In der Bank vor sich sah Ricciardi einen Mann, der den Kopf seiner kleinen Tochter streichelte, die ihm dafür die Hand küsste.
»Wir könnten also annehmen«, fuhr Don Pierino fort, »dass diese Kette, die sogar Gott selbst widersteht, niemals zerstört werden kann. Doch leider ist es nicht so. Es gibt einen Weg, diese Kette zu zerbrechen, ein furchtbares Instrument, das diesen irreparablen Schaden anrichten kann.«
Der Pfarrer suchte und fand Ricciardi in der Menge und sah ihm fest in die Augen.
»Dieses Instrument ist die Sünde: eine glänzende Waffe, die Gott selbst uns in die Hand gegeben hat, damit wir bewusst darauf verzichten, uns durch unseren
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