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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Angst. Der Mörder kämpfte und gewann. Die einzige Verunstaltung hat Ettore verursacht, als er der Leiche den Ring seiner Mutter vom Finger riss und ihn so ausrenkte. Und Sofias Schuss? Darin lagen weder Kraft noch Wut, nur blanker Wahnsinn. Die Capece wollte eine Schuldige richten. Drei verschiedene Arten der Gewalt an Adrianas Körper. Das hat mich durcheinandergebracht, mich in die Irre geführt. Ich habe nicht begriffen, dass die Lösung ganz einfach war:Die drei Tätlichkeiten rührten von drei unterschiedlichen Tätern.«
    Sciarra schüttelte langsam den Kopf, es war fast ein Wiegen. Ricciardi fuhr leise fort:
    »Zwei Hinweise habe ich nicht zu deuten gewusst, nicht sehen wollen. Auf dem Teppich befand sich eine Art Fußabdruck. Eine merkwürdige Spur, sie war bloß zu erahnen. Erde, ein wenig Schlamm, dabei hat es seit zwei Monaten nicht geregnet. Woher also kam dieser Schmutz?«
    Sciarra ließ die Hand sinken und sah dem Kommissar zum ersten Mal ins Gesicht. Seine merkwürdigen Augen, die durch die Nase weit auseinanderstanden, glänzten nass wie die eines Rehs. Er sagte nichts.
    »Du hast mir gesagt, dass du die Hortensien spät abends gießt, obgleich der junge Herr dich dafür tadelt. Wasser und Erde: Die Fußspur stammte von dir. Und der andere Punkt, den ich Dummkopf nicht sofort gesehen habe, ist die Kette. Das Vorhängeschloss war verschlossen, die Herzogin öffnete es, wenn sie nach Hause kam. Aber diesmal kam sie früher zurück, weil sie mit Capece gestritten hatte, und fand die Kette offen, obwohl sie die Schlüssel hatte. Wie das? Ganz einfach: Es fehlte ein Ring.«
    Ricciardi hörte deutlich den letzten Hilferuf der toten Adriana:
    »Der Ring, der Ring, du hast den Ring weggenommen.«
    Und er hatte sich noch gefragt, welcher Ring wohl gemeint sei, der von Capece oder der von Ettores Mutter –wie dumm! Dabei ging es einfach nur um einen manipulierten Ring an der Kette zum Verschließen der Gittertür. Einen Ring, den Sciarra weggenommen hatte, um sich Zugang zur Wohnung zu verschaffen, sobald die Herzogin außer Haus und Concetta im Bett war. Erst Don Pierino und sein Bild von der durch die Sünde zerrissenen Kette zwischen Mensch und Gott hatten die Wahrheit aus der Tiefe seines Unterbewusstseins ans Licht gebracht.
    Ohne Hast steckte der Pförtner eine Hand in die Tasche und zog etwas heraus. Er reichte es dem Kommissar. Ein Kreis aus dunklem Metall, der in der Mitte offen war; es war kein Eisen, sondern ein gefärbtes weiches Metall, eventuell Blei. Sciarras Generalschlüssel zur Wohnung der Herzogsfamilie.
    Der Abend senkte sich auf den Hof des Herrenhauses, ließ die Schatten länger werden und die Farben verschwinden. Endlich begann Sciarra zu sprechen. Im Flüsterton klang seine brüchige Stimme nun eher pathetisch als komisch.
    »Manchmal frage ich mich, wo ich hingehöre. Wissen Sie es, Commissario? Können Sie es mir sagen? Alle sagen immer: Bleib dort, wo du hingehörst. Aber wo genau das ist, das weiß niemand. Nicht einmal mir ist klar, wo mein Platz ist.«
    Die Stieglitze hörten schlagartig auf zu singen. Dann fingen sie aus vollem Halse wieder an. Auch Sciarra sprach weiter:
    »Ich stamme aus Pozzuoli. Ohne Boot zum Fischen gibt’s in meinem Dorf keine Arbeit. Ich war sehr jung, als ich meine Frau kennenlernte; wir sind einfache Leute mit einfachen Träumen, nicht wie die Herrschaften hier, die tausend Dinge im Kopf haben. Wir wollten bloß ein Dach über dem Kopf und was zu essen für uns und die Kinder. Und arbeiten wollten wir, unser Brot ehrlich verdienen. Bei uns, wer da kein Boot hat, der kann nur eins tun, wenner essen will: sich bei den Fischern verdingen. Aber ich wollte nicht für diese Leute arbeiten. Also haben wir unser bisschen Zeug auf den Wagen gepackt und sind nach Neapel gekommen, in die große Stadt.«
    Ricciardi wusste aus Erfahrung, dass jeder Mörder reden möchte, um sich Erleichterung zu verschaffen. Um verstanden zu werden. Der Zuhörer soll seine Gründe nachvollziehen und ihm sagen: Armer Sciarra, du hast ja so recht. In Wahrheit bist du das Opfer und nicht der Schuldige. Immer dieselbe Geschichte.
    »Aber wir haben auch hier gehungert. Wir schliefen unter dem Wagen, hielten abwechselnd Wache, weil sonst die Mäuse Nasen und Ohren der Kleinen gefressen hätten, ich hab mit eigenen Augen gesehen, dass so was passiert, glauben Sie mir. Wenn’s nicht die Mäuse waren, waren’s die, denen es noch schlechter ging als uns und die uns die paar

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