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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Habseligkeiten wegnehmen wollten. Eines Morgens, als ich hierherkam, um die Madonna in der Kirche um Hilfe zu bitten, hab ich Signora Concetta gesehen, die Haushälterin, und gehört, wie sie sich bei einer Krämerin beschwerte, dass sie keinen Pförtner und kein Dienstmädchen fänden und sie es leid sei, alles allein zu machen.«
    Bei der Erinnerung daran begannen Sciarras Augen zu leuchten: Die Madonna hatte ihm geholfen, noch bevor er sie darum bitten konnte.
    »Ich danke Gott jeden Tag, noch heute. Endlich hatte ich eine Anstellung. Ich hatte meinen Platz gefunden. Meine Kinder konnten in einem Haus aufwachsen und hatten zu essen. Sie haben ja keine Vorstellung, wie hungrig sie waren! Und was es für uns bedeutet, zwei Mal am Tag zu essen. Meine Kinder haben den Hunger bald vergessen, die Kleinste hat ihn nie kennengelernt. Aber meine Frau und ich, Commissario, wir haben nichts vergessen. Wir wachen immer noch nachts auf, aus Angst, wenn wir davon träumen: die Nächte unter dem Karren, im Regen, der von überall eindringt, und dann erst das Zähneklappern. Wir haben dem Tod ins Gesicht gesehen, Commissario.«
    Dem Tod ins Gesicht – ausgerechnet ihm musste er das sagen. Die tote Herzogin sah ihm tatsächlich ins Gesicht, wer weiß, wie lange sie noch zu leben gehabt hätte.
    »Ich kann es nicht ertragen, wenn meine Kinder Hunger haben, nicht einmal ein wenig Appetit. Wenn sie was essen wollen, bekommen sie es von mir. Ich bin schließlich ihr Vater, es ist meine Pflicht. Vielleicht sind sie ja so hungrig, weil wir früher nichts hatten. Sie könnten immerzu essen, von morgens bis abends, es ist unglaublich. Aber sie sind nicht gefräßig, sie haben einfach nur Hunger.«
    Ricciardi erinnerte sich an die beiden Kinder, die sich am Morgen nach dem Tod der Herzogin um Brot und Käse gestritten hatten.
    »Sie haben ja keine Ahnung, was es hier im Haus alles in der Speisekammer gibt. Essen, das niemand brauchte, weil weder die eine noch der andere zu Hause aßen; und der Herzog, der Arme, ernährt sich von Süppchen und Brühe. Von den Gutshöfen der Familie werden die Vorräte zentnerweise angeliefert, von allem nur das Beste. Doch das Zeug verdirbt und wird am Ende weggeworfen. Da blutet einem das Herz, wenn man sieht, was hier jede Woche im Müll landet: Fleisch, Nudeln, Obst. Und dabei gibt’s draußen Kinder, die verhungern. Es ist ungerecht, aber man kann es nicht ändern: Jeder hat seinen Platz. Aber wo ist dieser Platz? Wissen Sie es, Commissario?«
    Ricciardi sagte:
    »Erzähl weiter. Erzähl mir von jenem Abend.«
    Sciarra bedeckte sich erneut mit zitternden Händen das Gesicht. Wieder donnerte es, diesmal etwas näher.
    »Wenn Signora Concetta sich zurückzieht, schließt sie die Kette an der Gittertür mit dem Vorhängeschloss. Sie geht meistens sofort ins Bett, hat einen festen Schlaf und wacht vor dem Morgen nicht auf. Die Herzogin kam immer sehr spät nach Hause, nicht vor zwei Uhr nachts; sie öffnete das Vorhängeschloss mit dem Schlüssel, schloss wieder ab, legte die Schlüssel in die Schublade, wo Concetta sie am Morgen vorfinden würde, und ging auf ihr Zimmer. Ab und zu brachte sie auch jemanden mit nach Hause. Aber die Prozedur des Auf- und Abschließens blieb immer gleich.«
    »Und weiter?«
    »Nun, vor einem Jahr etwa sagte ich mir: Wer merkt schon, ob ein Stückchen Fleisch aus der Speisekammer fehlt? Sie werfen es ja doch nur weg. Mein ältester Sohn war sehr krank. Er war ganz weiß im Gesicht, Blutarmut. Also hab ich einen Ring aus Blei geformt, der genauso aussah wie die übrigen Glieder der Kette, und ihn ganz am Ende eingefügt. Abends, bevor die Herzogin nach Hause kam, hab ich ihn dann geöffnet. Ich bin stark, müssen Sie wissen, obwohl niemand mir das zutraut.«
    Die Herzogin würde es dir jetzt wahrscheinlich zutrauen, dachte Ricciardi, wenn man bedenkt, dass es ihr nicht gelang, sich aus deinem Klammergriff zu befreien, der sie erstickt hat.
    »Von da an habe ich hin und wieder etwas zu Essen aus der Kammer geholt. Nicht oft, Commissario. Nur wenigeMale. Ich ging hinein, nahm ein wenig Öl, ein Stück Fleisch, Brot. Ein bisschen Käse. An diesem Abend hatte ich ein Stück Käse genommen. Das Mädchen hatte Lust darauf, es hatte mich hundert Mal darum gebeten und ich hatte es ihm versprochen. Als ich aus der Speisekammer komm, steht plötzlich die Herzogin vor mir, mit den Schlüsseln in der Hand. Sie hat mich angesehen und gesagt: ›Morgen verschwindet ihr von hier. Alle. Ihr

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