Der Sommer des Commisario Ricciardi
seine Mutter.
Signora Maione, die Frau des Brigadiere, hatte es Enrica gesagt – ein wahrer Engel. Sie hatte ihr von der Verschlossenheit und Einsamkeit des Kommissars erzählt, auch von seiner Traurigkeit.
Luigi Alfredo. Sie ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen und fand ihn ebenso schön und geheimnisvollwie den Mann, der ihn trug. Leise sprach sie ihn aus, abends vor dem Einschlafen oder wenn sie in der neuen Metallwanne badete, die ihr Vater erst kürzlich gekauft hatte. Signora Maione hatte sie davon überzeugt, dass nichts verloren war und es sich lohnte zu warten, weil der Kommissar sich, auch wenn er es nicht zugab, ganz sicher für sie interessierte.
Lächelnd machte Enrica einen langen, unnützen Umweg am Fenster vorbei zur Spüle. Sie fand, dass es sich in der Tat lohnte zu warten. Solange es nötig war.
Livia war überzeugt, dass es nicht lange dauern würde.
Als sie im Winter nach Neapel gerufen wurde, um die Leiche ihres Mannes zu identifizieren, hatte sie in dem neuen Eilzug über Formia keinen Platz bekommen und stattdessen den Zug genommen, der die alte Strecke über Cassino fuhr. Sie erinnerte sich an eine sehr lange, öde Fahrt von über vier Stunden: Immer wieder hatten sie angehalten, Bahnübergänge passiert und sogar Schafherden von den Gleisen vertreiben müssen. Allerdings war ihr damals jede Verzögerung recht gewesen; sie hatte keinerlei Verlangen danach verspürt, Arnaldo zu sehen, nicht einmal tot. Je länger die Fahrt dauerte, umso besser.
Diesmal allerdings wäre sie hingeflogen, wenn sie gekonnt hätte. Nachdem sie beschlossen hatte, Ricciardi zu treffen, um herauszufinden, warum sie ihn einfach nicht vergessen konnte, war ihr jeder Tag des Wartens zur Qual geworden.
Nun ratterte der Schnellzug über die Felder, und Livia, die sich nicht für die Unterhaltung in ihrem Erste-Klasse-Abteil interessierte, malte sich in Gedanken die bevorstehende Begegnung aus. Um sie herum saßen zwei Paare. Die Männer warfen ihr verzückte Blicke zu, was ihr die stumme Missgunst der Ehefrauen einbrachte; dabei hätten diese Kerle nackt vor ihr herumtanzen können, sie wären ihr auch dann nicht aufgefallen.
Dort in der Ferne, vor dem Hintergrund des allmählich am Horizont glitzernden Meeres und in der stickigen, flimmernden Luft, sah Livia lediglich ein Paar grüne Augen. Wie merkwürdig doch die Liebe war.
Die Tür öffnete sich, und herein trat Doktor Modo, gefolgt von dem mit Fotoapparat, Stativ und Magnesiumlampe bepackten Fotografen. Unter der breiten Krempe seines weißen Huts schwitzte der Arzt nicht zu knapp. Ohne Gruß legte er wie in Fortsetzung eines zuvor begonnenen Gesprächs gleich los:
»Also, ich sag ja nicht, dass es bessere oder schlechtere Zeitpunkte für einen Mord gibt, das fehlte gerade noch. Aber wenn sich denn schon jemand sowas in den Kopf setzt, wieso dann bloß sonntags – und dann noch bei dieser Hitze? Kann mir das mal jemand erklären?«
Bruno Modo war Krankenhausarzt, Chirurg und bei Bedarf auch Rechtsmediziner. Während des Krieges war er Offizier im Carso gewesen, und die Erfahrungen, die er dort gesammelt hatte, waren für die Polizeiermittlungen sehr wertvoll. Allerdings nahm er kein Blatt vor den Mund, und seine entschieden antifaschistische Einstellung machte den Umgang mit ihm gefährlich – ein Grund dafür, dass er trotz seiner Kontaktfreudigkeit nicht viele Freunde hatte und einige Beamte des Präsidiums nur ungern mit ihm zusammenarbeiteten.
Nicht so Ricciardi, der jedes Mal nach ihm schicken ließ, wenn ein Arzt gebraucht wurde. Er schätzte Modos außergewöhnliche Fähigkeiten ebenso wie seine Menschlichkeit. Außerdem besaß der Mann Humor, denselben schwarzen Humor wie Ricciardi, weshalb die beiden ein fast schon freundschaftliches Verhältnis zueinander pflegten. Der Doktor war der einzige, der den Kommissar duzte.
»Ah, Ricciardi, wer sonst? Gib’s zu, du hast diese liebreizende Dame eigenhändig ermordet, bloß um mich schwitzen zu lassen und mir den Sonntag zu vermasseln, nicht? Für nächstes Mal rate ich dir zum Selbstmord, das wär mal was anderes: Ich verspreche sogar, dass ich dann gratis komme.«
Ricciardi schüttelte den Kopf.
»Ciao Bruno, einen wunderschönen Tag auch dir. Wusste ich doch, dass dieses gesellschaftliche Ereignis dir zusagen würde, eine nette Art, seinen Feiertag zu verbringen. Was kannst du mir zu der Signora sagen?«
Modo hatte sich die Jacke ausgezogen, die Ärmel hochgekrempelt und beugte
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