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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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außerdem einen Streich gespielt: Er hatte sich an Livia erinnert. Fast hätte er ein wenig gelächelt. Sein ganzes Leben lang trug er nun das Kreuz einer Begabung, die ihn zu Einsamkeit und Kontemplation zwang. Und dann waren in ein und demselben Jahr, ja innerhalb weniger Monate, Gefühle auf ihn eingestürmt, die er nie für möglich gehalten hätte. Auch Livia hatte ihn irgendwie verwirrt, ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn besser kennenlernen wollte, weil sie ihn so mochte, wie er war.
    Er musste zugeben, dass er eine Zeit lang verunsichert gewesen war: Anders als Enrica hatte Livia ihn von Anfang an mit ihrem betörenden Duft, der weichen Haut und den vollen Lippen, ihrem geschmeidigen Gang in einen Strudel der Empfindungen gezogen. Und als sie sich verabschiedeten, hatten sich die Tränen auf ihren Wangen mit den Regentropfen vermischt.
    Während er die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, hatte Ricciardi daher drei Frauen im Sinn und im Herzen: eine ganz in seiner Nähe, eine, die er weit weg glaubte, und eine Tote.

      IX  Heute war das Aufwachen anders für dich gewesen. Nach so vielen Jahren endlich ein neuer Anfang.
    Dem Anschein nach ist alles gleich geblieben. Du hast wie immer die Sonne vom Bett aus aufgehen sehen, und wie immer war das Kissen neben dir unberührt. Bei seinem Anblick zog sich dir das Herz vor Wehmut zusammen. Wie immer warst du als Erste auf den Beinen, die Wohnung war so still, so anders als in deinen liebsten Erinnerungen, als die Kinder klein waren, lachten, stritten und herumrannten und dein Mann dich noch ansah und lächelte.
    Du deckst den Frühstückstisch, doch wer weiß, ob überhaupt jemand frühstückt. Es kam schon vor, dass die Teller sauber blieben und das Essen unberührt. Du beklagst dich nicht. Klagen liegt dir nicht, ist nicht deine Art.
    Ist man vielleicht selbst schuld, wenn einem die Kraft zum Weinen fehlt? Wenn man seine Scham nicht hinausschreit, den zutiefst verletzten Stolz? Ist man selbst schuld, wenn man den Blick senkt, während das Glück wie Sand zwischen den Fingern hindurchrieselt?
    Du hast an eure Liebe geglaubt, ewige Treue geschworen, an jenem strahlenden Frühlingsmorgen. Jahre sind seither vergangen. Du siehst den Nachbarn, Verwandten und Freunden ihr Mitgefühl an. Musst neben dem Schmerz auch noch den Spott ertragen, weil du es schweigend erduldest. Sanftmut kann auch Feigheit sein. »Also ich an ihrer Stelle …«, heißt es von allen Seiten. Du weißt, dass über dich geredet wird.
    Durchs Küchenfenster scheint schon die Sonne. Kein bisschen kühler ist es in der Nacht geworden. Du denkst an ihn. Die Nachricht wird inzwischen angekommen sein.
    Mit hängenden Schultern starrst du die Wand an, wartest, dass die Kinder aufwachen. Und lachst leise vor dich hin.
     
    Auf seinem Weg zur Arbeit beobachtete Ricciardi das Leben am Montagmorgen. Im Sommer fiel es den Leuten schwerer als sonst, die neue Woche zu beginnen, als wär der Sonntag zu schnell vorbeigegangen und man brauche noch ein wenig mehr Erholung und Vergnügen.
    All das spürte der Kommissar beim Anblick der sonnengegerbten Burschen, die halbnackt und barfuß den ersten Straßenbahnen hinterherliefen, um sich daran festgeklammert auf eine gefährliche Fahrt hinunter in die Via Caracciolo zu begeben. Er erkannte es an der Verspätung, mit der die ersten Geschäfte geöffnet wurden, dieselben Läden, in denen die Leute normalerweise bereits ihrer Arbeit nachgingen, wenn er morgens an ihnen vorbeikam. Heute sah er dort verschlafene Lehrlinge, die noch die schweren Holzfensterläden wegnehmen und die Ware hinausbringen mussten, wo sie dann mit Planen vor der Sonne geschützt wurde.
    Er erkannte es an den noch geschlossenen Fenstern, hinter denen die Menschen versuchten, der bereits vom Himmel brennenden Sonne noch ein wenig Schlaf und Schatten abzutrotzen.
    Ricciardi hatte eine sehr feine Nase, und dieser trockene Sommer war für ihn besonders schlimm. Der Fäulnisgeruch aus den Gassen und Abwasserkanälen war widerlich. Alles, was die Sonne vermodern ließ und nicht weggeschafft wurde, durchdrang mit seinem Gestank die Straßen, verpestete die Luft und nahm einem den Atem. Täglich wurden Dutzende Kinder und alte Leute aufgrund mangelnder Hygiene krank und starben zu Hause und in den Krankenhäusern. Ricciardi fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass die Zeitungen und das Radio kein Wort über diesen furchtbaren Zustand verloren und stattdessen in heiterem Ton von

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