Der Sommer des Commisario Ricciardi
Prinzenbesuchen und Ozeanüberflügen berichteten. Jeder hat seine Gespenster, dachte er, man muss nur in der Lage sein, sie zu ignorieren.
Als er im Polizeipräsidium ankam, wartete Ponte bereits vor seiner Tür; er tänzelte herum, als ob er dringend zur Toilette müsste. Der Vizepräsident befand sich entgegen seiner Gewohnheit bereits in seinem Büro und wollte ihn umgehend sprechen. Seufzend folgte Ricciardi dem Amtsdiener, der alles und jeden ansah, nur nicht ihn.
Mario Capece stand auf dem Balkon der Zeitungsredaktion und rauchte. Nach einer hektischen Nacht, die Tag für Tag dem Erscheinen der Morgenausgabe vorausging, blieb er immer etwas länger als die anderen. In der Regel erfreute ihn der Anblick der Zeitungsburschen, die – mit ihren großen Packen Papier auf den Schultern – darauf brannten, die ersten Meldungen in die noch schlafende Stadt hinauszurufen. Die heutige Nachricht des Tages jedoch hätte er am liebsten nie vernommen.
Mario Capece weinte. Seine Kollegen beobachteten ihn verstohlen aus den Innenräumen der Redaktion, waren nicht in der Lage, ihn zu trösten. Als am frühen Nachmittag ein blutjunger Lehrling bang und atemlos hereingestürzt war und nicht sprechen wollte, war allen sofort klar gewesen, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Capece hatte den Jungen von seinem Zimmer aus nichtankommen sehen, und so konnte dieser erst seinen Stellvertreter informieren, einen lieben alten Freund und Mitstreiter.
Der Mann hatte die schreckliche Pflicht auf sich genommen, es Capece zu sagen. Die anderen Reporter hatten ihn die Tür hinter sich zuziehen sehen, hatten mit angehaltenem Atem die darauf folgende kurze Stille abgewartet und dann den verzweifelten Schrei ihres Chefs vernommen, einen Schrei äußersten Schmerzes.
Das Verhältnis zwischen Mario Capece, Chefredakteur des Lokalteils des Roma , und Adriana Musso di Camparino war stadtbekannt; aber nur wenige wussten, wie tief die Gefühle des Reporters für die Herzogin waren. Gefühle, die ihm eine glänzende Karriere verbaut hatten und sie an der Schwelle zur Direktion der ältesten Zeitung der Stadt enden ließen. Die ihn der Lächerlichkeit und dem Mitleid seiner Feinde preisgaben, eine Leere um ihn herum erzeugten. Die ihm außer seiner Frau auch seine Kinder entfremdet hatten, die traditionell und unnachsichtig waren, wie junge Leute es manchmal zu sein vermochten.
Auf all das hatte Capece aus Liebe verzichtet. Um den Launen einer wunderschönen, flatterhaften, unsicheren und oberflächlichen Frau nachzugeben. Viele Male hatte Arturo Dominici, Capeces Stellvertreter und bester Freund, versucht, ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Und ebenso oft war er auf die Intensität und Macht tiefer Gefühle gestoßen, die so unheilbar waren wie ein Tumor.
Ausgerechnet er hatte Mario die Botschaft übermitteln müssen, noch dazu am Ende eines Tages, an dem sein Freund nervöser und reizbarer gewesen war als sonst. Arturo hatte erwartet, dass er sofort zu ihr eilen würde, docher hatte sein Zimmer bis zum Morgengrauen nicht mehr verlassen.
Am Samstagabend hatte Dominici Capece nicht in der Redaktion vorgefunden. Schließlich war dieser dann aber doch noch sehr spät und betrunken eingetroffen. Der stellvertretende Chefredakteur hatte den jämmerlichen Zustand seines Kameraden einem erneuten Streit mit der Geliebten zugeschrieben, wie sie in letzter Zeit immer häufiger vorkamen. Er hatte ihm aufs Sofa des Büros geholfen und ihn beruhigt: Er würde ihn bei der Arbeit ein weiteres Mal vertreten. Bevor er einschlief, hatte Capece mit belegter Stimme zu ihm gesagt:
»Es ist aus, Arturo. Diesmal ist es endgültig aus und vorbei.«
Dominici hatte ihm natürlich nicht geglaubt. Denselben Satz hatte er in den letzten drei Jahren schon etliche Male gehört. Diesmal jedoch hatte der Freund seinen Arm festgehalten, etwas aus seiner Tasche gezogen und ihm gezeigt.
Es war ein Ring.
Garzo kam Ricciardi zur Begrüßung entgegen, als dieser sein Büro betrat. Der Kommissar hatte gelernt, die Herzlichkeit seines Vorgesetzten mehr zu fürchten als dessen gebieterischen Ton und berufliche Beschränktheit: Gegen Letztere konnte er sich mit Kompetenz und Sarkasmus zur Wehr setzen, angesichts Ersterer blieb ihm jedoch nur der Versuch, den gebührenden Abstand wiederherzustellen.
Diesmal jedoch traf er den Vizepräsidenten in einer seelischen Verfassung an, die er noch nie an ihm gesehenhatte. Er schien nicht geschlafen zu haben: Seine
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