Der Sommer des Commisario Ricciardi
Krawatte saß locker, er hatte dunkle Ringe unter den Augen und war sogar stellenweise schlecht rasiert.
Das war äußerst ungewöhnlich. Angelo Garzo, durch und durch Bürokrat, hatte seine Karriere auf Beziehungen und seinem äußerem Erscheinungsbild aufgebaut und gestattete sich niemals eine Haltung oder ein Auftreten, die nicht mindestens formal perfekt waren. In Zeiten, in denen man sich bei jeder Frage an Rom wandte, machte sein außerordentliches diplomatisches Geschick ihn zum wichtigsten Mann des Präsidiums. Der Polizeipräsident bediente sich seiner, wann immer es um den Kontakt zum Ministerium ging, und Garzo, dessen Stärken ausschließlich auf diesem Gebiet lagen, war darüber hocherfreut. Seine Untergebenen erinnerten sich noch gut an seine Bemerkung angesichts der erfolgreichen Aufklärung eines Falls mithilfe ihm unverständlicher Methoden: Er hatte seinen wohlfrisierten Kopf geschüttelt und gesagt, um Verbrecher zu verstehen, müsse man denken wie sie, und er als rechtschaffener Mensch würde wohl nie einen Mörder verstehen.
An jenem Montagmorgen jedoch war Polizeivizepräsident Angelo Garzo wie ausgewechselt. Er wies Ricciardi zu einem der beiden Sessel vor dem kahlen Schreibtisch, entließ Ponte mit einer knappen Handbewegung und setzte sich seinerseits in den anderen Sessel neben den Kommissar.
»Ich habe von dem Mordfall Camparino erfahren. Eine entsetzliche Angelegenheit, unser aller Schicksal hängt jetzt von Ihren Ermittlungen ab. Wie weit sind Sie?«
Das brachte Ricciardi in Bedrängnis. Er konnte sichbeim besten Willen nicht vorstellen, was an diesem Mord so besonders sein sollte.
»Sie ist zu Hause getötet worden, wahrscheinlich durch einen Schuss in die Stirn. Ich warte noch auf den Autopsiebericht, Doktor Modo hat sich des Falls angenommen. Falls nötig, werde ich selbst später im Leichenschauhaus vorbeigehen.«
Garzo knetete sich die Hände.
»Wissen Sie … haben Sie schon jemanden befragt im Haus Camparino?«
Ricciardi wollte seinem Vorgesetzten keinen Schritt weiter als nötig entgegenkommen.
»Bis jetzt nur die Dienstboten, insgesamt drei Personen. Später werden wir die restlichen Hausbewohner, die Familie vernehmen. Danach noch die Lieferanten, Nachbarn. Das übliche Prozedere eben.«
Garzo packte Ricciardis Arm.
»Da sagen Sie’s. Das Prozedere. Diesmal wollen wir das Prozedere außer Acht lassen, Ricciardi. Es nicht befolgen. Wir müssen mit äußerster Behutsamkeit vorgehen, uns sozusagen auf Katzenpfoten bewegen.«
Ricciardi konnte seine Hand nur mit Mühe aus Garzos Griff befreien und schaute direkt in die geröteten Augen seines Vorgesetzten.
»Verzeihen Sie, Dottore, aber ich verstehe nicht. Was soll das heißen, das Prozedere außer Acht lassen? Gibt es etwas, das ich wissen sollte und nicht weiß?«
Garzo stand unvermittelt auf und schritt nervös im Zimmer auf und ab.
»Das Sie nicht wissen? Nein. Das heißt, wahrscheinlich doch. Ich vergesse immer, dass Sie, sagen wir, sehr zurückgezogen leben, nicht in der Gesellschaft verkehren. Also: Adriana Musso di Camparino ist … vielmehr war … in der Stadt sehr bekannt. Sie führte ein … wie soll ich sagen … extrovertiertes Leben, ja. Eine so schöne und reiche Frau wie sie zog die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf sich, wirkte anziehend, wie sollte es anders sein? Sie verstehen, es gab Gerede, Klatsch. Uns kann der Klatsch gleichgültig sein, nicht wahr, Ricciardi? Wir, die Polizei, müssen uns an die Fakten halten.«
Ricciardi wartete; es war offensichtlich, dass Garzo etwas sagen wollte, aber nicht den Mut dazu hatte.
»Wäre es dann aber nicht besser, wenn derjenige, der die Ermittlungen führt, schon zu Beginn von diesem … Gerede erfährt, und zwar möglichst durch einen objektiven Informanten? Anstatt herumzulaufen und Klatsch zusammenzutragen, meine ich?«
Garzo hielt in seiner nervösen Wanderung inne.
»Ja. Selbstverständlich. Also, Ricciardi, zuallererst sollten Sie wissen, dass die Ermittlungen Sie unvermeidlich in Kontakt mit … besonderen Kreisen bringen werden. Sagen wir … ungewöhnlichen Kreisen. In denen Fragen nicht so leicht gestellt werden können, wie wenn man … etwa … einen Straßenbahnfahrer oder einen Müllmann verhört. Es geht hier um wichtige, mächtige Leute.«
Ricciardi erhob sich abrupt.
»Dottore, vielleicht sollten Sie die Ermittlungen jemand anderem anvertrauen. Cimmino zum Beispiel. Ich stehe natürlich zur Verfügung, um ihn auf den aktuellen Stand der
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