Der Sommer des Commisario Ricciardi
Reihe nach, oder wenigstens in der Reihenfolge, die wir sonst auch einhalten. Morgen befragen wir die beiden Angehörigen, mal sehen, was sie zu sagen haben. Nach dem, was du erzählt hast, stand es ja wohl nicht zum Besten zwischen den beiden Ehegatten oder zwischen Stiefmutter und Stiefsohn.«
Maione kratzte sich am Kopf.
»Haben Sie etwas Neues vom Dottore erfahren? Ich hab die Patronenhülse mit den Mustern in unserem Archiv verglichen. Sie hatten recht: eine Beretta Kaliber 7,65 aus dem Krieg, nicht das alte Modell, sondern die Pistole,die sie den Offizieren zum Schluss gegeben haben, also 1917; davon sind noch Tausende im Umlauf. Keine Besonderheiten. Ich habe zwei Wachleuten gesagt, sie sollen das Zimmer durchsuchen, aber die haben auch keine anderen Spuren gefunden. Der Mörder hat nur den einen Schuss abgegeben.«
Ricciardi nickte.
»Modo, der alte Erpresser, hat gesagt, dass er die Autopsieergebnisse nur rausrückt, wenn ich ihn zum Essen einlade. Komm auch mit, wir treffen uns ganz in der Nähe, in einer Trattoria bei Santa Brigida; dann erfährst du alles.«
Maione wurde noch blasser.
»Nein, danke, ich hab keinen Hunger. Sie können es mir ja auch morgen erzählen.«
»Doch, ich bestehe darauf: Vier Ohren hören mehr als zwei. Und wann hattest du je ein Problem damit, zwei Mal zu Abend zu essen? Ich möchte es heute auch nicht spät werden lassen. Hören wir uns an, was Modo sagt, und dann gehen wir nach Hause.«
Maione gab nach.
»Na gut, ganz wie Sie wünschen. Aber ich werde nichts essen. Ich leiste Ihnen nur Gesellschaft und esse dann zu Hause.«
Enrica spürte, dass etwas im Busch war. Ihre Mutter war von ihrem Spaziergang zurückgekehrt und schien ziemlich aufgeregt zu sein: Sie hatte Blumen mitgebracht und das Dienstmädchen angewiesen, das Silberbesteck zu putzen. Als Enrica sich erkundigte, warum an einem ganz normalen Tag so viel Aufhebens um das Essen gemachtwurde, hatte sie nur ein nervöses Kichern und ein Schulterzucken als Antwort erhalten.
Wenn Mama sich so aufführte, war es unnötig zu insistieren – Enrica wusste das, war jedoch merkwürdig unruhig. Irgendwann sah sie die Frau hereinkommen, die ihrer Mutter sonst die Haare machte. Sie fragte, ob es denn etwas zu feiern gebe, von dem sie nichts wisse – und erhielt die Antwort, die Frau sei ihretwegen gekommen.
Das Mädchen riss die Augen auf, doch noch bevor sie etwas einwenden konnte, hörte sie die Mutter sagen:
»Und zieh dein gutes Kleid an. Heute Abend haben wir Gäste.«
Auf dem kurzen Weg vom Präsidium zur Via Santa Brigida, wo sie mit Modo verabredet waren, begegneten sie nur wenigen Lebenden und einem Toten. Erstere waren lärmende Jugendliche auf dem Rückweg vom Meer. Den Toten sah natürlich nur Ricciardi; es handelte sich um einen Arbeiter, der bei der Reparatur einer Regenrinne vom Dach gestürzt war. Sein Rücken war verbogen wie der Griff eines Regenschirms und Blut troff aus seinem Mund, der unaufhörlich denselben Satz formte:
»Das hält schon, der Sims hält mich.«
Die berühmten letzten Worte, dachte Ricciardi wie jedes Mal, wenn er an ihm vorbeiging, und wandte den Blick ab. Maione deutete den Ausdruck seines Vorgesetzten falsch.
»Was ist, Commissario, haben Sie auch Kopfweh? Bei mir dreht sich in diesen Tagen alles wie ein Kreisel.«
Ricciardi antwortete:
»Jetzt, wo du’s sagst, du siehst wirklich blass aus. Geht’s dir nicht gut?«
»Doch, doch, mir geht’s gut, ich esse nur weniger. Und bei dieser Hitze …«
»Verstehe, das kann nicht schaden. Aber ob heiß oder kalt – bei mir bleibt der Hunger derselbe. Bei Modo auch, wie du siehst. Da ist er ja schon.«
Der Doktor saß bereits an einem der Tischchen auf dem Bürgersteig unter einer großen Markise, die vor den letzten Strahlen der untergehenden Sonne schützte.
»Oh, da kommt ja mein Abendessen. Lieber Brigadiere, Sie auch? Dann geben Sie wohl den Kaffee aus, Sie sollen nicht zu kurz kommen.«
Maione lächelte.
»Guten Abend, Dottore. Leider nicht, ich bin heute nur Zuschauer und Zuhörer. Von zahlen war nicht die Rede.«
Ricciardi setzte sich; zum Wirt gewandt zeigte er auf die Pasta al Forno, die sich auf Modos Teller türmte.
»Für mich dasselbe bitte. Na dann, Bruno: Kannst du über die Herzogin sprechen oder verdirbt es dir den Appetit?«
Modo kaute mit vollem Mund. Er schüttelte den Kopf.
»Nichts auf der Welt verdirbt mir den Appetit. Im Carso hab ich sogar unter den Bomben der Österreicher gegessen
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