Der Sommer des Commisario Ricciardi
einen Ring wegzunehmen.«
»Und sonst? Dein Gesichtsausdruck verrät mir, dass du noch eine kleine Überraschung bereithältst.«
Modo lächelte wie ein Kind.
»Deine Tote, mein lieber trauriger Ricciardi, hatte eine Wunde an der linken Wangeninnenseite. Jemand hat sie geschlagen, bevor sie ermordet wurde.«
XIII Verärgert stand Giulio Colombo vor dem Spiegel und band sich die Krawatte. Er war wütend auf sich selbst.
Als er am Abend nach Hause gekommen und Enrica ihm wie immer entgegengegangen war, um ihm Hut und Stock abzunehmen und sich von ihm auf die Stirn küssen zu lassen, hatte er sich nicht getraut sie anzusehen. Den ganzen Weg lang hatte er sich einzureden versucht, was er getan hatte, geschehe zum Besten seiner Tochter, doch er wurde das unangenehme Gefühl nicht los, sie damit hintergangen zu haben.
Die Dinge lagen folgendermaßen: Als seine Frau ihm am Morgen so entschlossen auseinandergesetzt hatte, wie wichtig es sei zu verhindern, dass Enrica in Elend und Einsamkeit endete, hatte er nicht die Kraft gehabt zu widersprechen und sich am Ende überzeugen lassen, auch wenn er ihre Befürchtungen übertrieben fand.
Nur ein paar Schritte von seinem Laden entfernt führte ein alter Freund von ihm, Luciano Fiore, mit seiner Frau Rosanna ein großes Stoffgeschäft. Das ausgesprochen wohlhabende Paar hatte nur einen Sohn, Sebastiano, der mit seinen achtundzwanzig Jahren noch Junggeselle war. Den Eltern, insbesondere der Mutter, schien einfach kein Mädchen gut genug für ihn zu sein – ob es nun an ihrer Schönheit, ihrer Gesundheit oder ihren Vermögensverhältnissen lag. In Wahrheit vermutete Giulio, dass keine den eitlen und aufgeblasenen jungen Mann haben wollte: Er lebte allzu bequem auf Kosten seiner Familie, um selbst eine zu gründen. Als er diese Bedenken allerdings seiner Frau mitteilte, hatte sie ihm ohne Umschweife vorgeworfen, er sei bloß zu feige, die Angelegenheit anzugehen. Also hatte er sich geschlagen gegeben, war zu Fioregegangen und hatte ihn gemeinsam mit Frau und Sohn zum Abendessen eingeladen. Rosanna hatte die Sache gleich in die Hand genommen und ihm freudig zugesagt. Sie liebäugelte nämlich schon lange mit einer Verbindung der beiden jungen Leute und sah in Gedanken bereits ein einziges, riesiges Hut- und Stoffgeschäft unter der Leitung ihres Sohnes vor sich.
Giulio war Rosanna Fiore herzlich unsympathisch, wie im Übrigen auch ihr Sohn, dem er nur wenige Male begegnet war. Der arme Luciano, dachte er, war ein ständiges Opfer der Launen seiner Frau. Doch dann fiel ihm ein, dass es ihm selbst vielleicht auch nicht anders erging, was ihn noch mehr verstimmte. Und bei dieser unglaublichen Hitze trug die Aussicht darauf, auch abends in den eigenen vier Wänden noch Jacke und Krawatte tragen zu müssen, nicht zur Verbesserung der Lage bei.
Erneut fragte er sich, wie er sich nur dazu hatte überreden lassen, seine geliebte Enrica so hinters Licht zu führen.
Rosa Vaglio war eine jener altmodischen Frauen, die ihre Zuneigung durchs Kochen zum Ausdruck brachten. Und weil sie aus einer sehr armen Familie kam, vertrat sie die Ansicht, je stärker man jemanden liebe, desto mehr müsse man ihn füttern, ohne an Zutaten zu sparen. Da sie nun Luigi Alfredo Ricciardi mehr als alles andere auf der Welt liebte, kochte sie für ihn unaussprechliche Gerichte, die selbst einen Stier umgebracht hätten.
Seit seiner Geburt hatte sie für ihn gesorgt und über sein Leben gewacht, und der Gedanke, dass ihr Zögling noch keine Familie gegründet hatte, erfüllte die alte Kinderfrau mit großem Kummer. In ihrer Einfachheit war nur weniges für sie gewiss, eines jedoch wusste sie ganz sicher: Ohne Kinder fehlte etwas im Leben. Ihr eigenes hatte sie Ricciardi gewidmet, der mehr als zehn Kinder aufwog, wenn man all das Leid und die Sorgen bedachte, die seine beharrliche Einsamkeit ihr aufbürdete. Sie konnte nicht zulassen, dass er den Namen seiner Familie aussterben ließ. Wie oft hatte sie, auch auf die Gefahr hin, aufdringlich und lästig zu werden, versucht, ihn zum Ausgehen zu bewegen, Frauen kennenzulernen, und von ihm nur ein Schulterzucken und einen zärtlichen Blick zur Antwort erhalten. Sie hatte sogar schon in Erwägung gezogen, dass ihr Junge sich vielleicht nicht für Frauen interessierte. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es nicht so war, sondern dass er sich nicht bereit fühlte. Es musste nur der richtige Zeitpunkt kommen.
Und jetzt, nach so vielen Jahren,
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