Der Sommer des Commisario Ricciardi
glaubte Rosa, während sie einen Berg üppig gefüllter Makkaroni al Forno auf den Tisch stellte, dass dieser Zeitpunkt endlich gekommen war. Sie hatte nämlich bemerkt, dass Ricciardi, wenn er sich an sein Fenster stellte, um das Mädchen von gegenüber zu betrachten, kurz die Hand zum Gruß hob. Er wusste natürlich nicht, dass sie durch einen Spalt im Türrahmen sehen konnte, was in seinem Zimmer geschah. Wie hätte sie auch sonst wissen sollen, ob es ihm gut ging, wenn er sich darin einschloss?
Und das Mädchen – das sah sie von ihrem Fenster aus – erwiderte den Gruß mit einem leichten Kopfnicken. Das Eis begann also zu schmelzen. Bei dieser Hitze hatte es ohnehin keine Überlebenschance, dachte Rosa. Und lächelte.
Ricciardi roch Rosas Küche wie üblich schon zweihundert Meter im Voraus. Er fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass die Nachbarschaft noch nicht gegen diese Luftverpestung protestiert hatte.
Auf dem Nachhauseweg hatte er weiter über das nachgegrübelt, was er bei seinem Treffen mit Modo erfahren hatte. Es war offensichtlich, dass die Herzogin ihren Mörder gekannt hatte: Dafür sprachen das nicht aufgebrochene Schloss, die in die Schublade zurückgelegten Schlüssel und der Umstand, dass in dem Vorzimmer nichts zu Bruch gegangen war. Dennoch hatte es eine tätliche Auseinandersetzung gegeben, die Zeichen am Körper des Opfers bewiesen es. Außerdem war der Frau das Kissen gewaltsam aufs Gesicht gedrückt worden, ganz sicher, damit sie nicht schrie. Vielleicht hatte Maione ja recht, wenn er glaubte, der Mörder selbst habe die Leiche so ordentlich aufs Sofa gelegt, aus Respekt oder Liebe.
Aus Liebe. Wie viele merkwürdige, absurde Dinge hatte er aus Liebe geschehen sehen. Und wie heimtückisch, dachte er, während er unter Rosas wachsamen Blicken seine Pasta aß, war dieses Gefühl, das in die Gedanken sickerte und die Seele verseuchte. Er kämpfte dagegen an, konnte aber nicht umhin, mit wachsendem Verlangen an seine unschuldige abendliche Verabredung zu denken und an den flüchtigen Gruß, den er dabei jedes Mal mit seiner Nachbarin wechselte. Er hätte nicht sagen können, ob es besser oder schlechter war als zuvor, als er Enrica noch heimlich beim Sticken zugesehen hatte, nur um mit ihr ein Stück Normalität zu sich zu nehmen, als sei sie ein wohltuender Kräutertee.
Enrica war verzweifelt und wütend. Man hatte ihr eine Falle gestellt, sie noch nicht einmal nach ihrer Meinung gefragt. Den ganzen Abend lang hatte sie versucht, mit ihrem Vater Blickkontakt aufzunehmen, doch der war sehr bedacht darauf gewesen, seiner Tochter bloß nicht in die Augen zu sehen. Ihre Mutter dagegen fühlte sich pudelwohl in ihrer Rolle als Gastgeberin und pries unaufhörlich Enricas häusliche Tugenden.
Die Freunde ihres Vaters, ein Ehepaar, das schlechter nicht zusammenpassen konnte, waren ihr unerträglich: Die Frau war eine schmierige, übermächtige Schreckschraube, ihr Mann ein farbloser, bedauernswerter Hansel, noch dazu stumm wie ein Fisch. Und der Sohn erst! Ein geistloser, unangenehmer, dummer Kerl, der ausschließlich und mit viel Ausdauer über Kleider, Autos und gesellschaftliche Vergnügungen sprach – es gab kaum etwas, das sie weniger interessierte.
Das Ganze ging auf Mamas Konto, da war Enrica sicher. Ihre Mutter hatte wohl beschlossen, zum Angriff überzugehen, nachdem sie jahrelang gejammert hatte, dass sie einen Verlobten für das Mädchen finden müssten. Zwar war sie in ihren Forderungen immer beharrlicher geworden, doch Enrica hatte nicht geglaubt, dass es so weit kommen würde: Ihr jemanden ins Haus zu bringen, ohne sie zu fragen! Erziehung und Herkunft verboten ihr jede Unhöflichkeit, aber niemand konnte sie zwingen, besonders nett zu sein. Daher hatte sie während des gesamten Abendessens, das diesmal im Wohnzimmer aufgetischt worden war, kein Wort gesprochen. Die Zeit war nur sehr langsam verstrichen: Der Schönling hatte ununterbrochen auf sie eingeredet; und während ihre Mutter wiederholtversuchte, sie in das Gespräch mit einzubeziehen, hatte die Schreckschraube sie mit Komplimenten überhäuft – ach, so ein hübsches Mädchen, so schöne Hände, so ein bezauberndes Lächeln. Enrica war angewidert.
Und jetzt auch noch verzweifelt, weil es schon zehn Uhr war und die Gäste überhaupt nicht daran dachten, nach Hause zu gehen. Sie würde nicht ans Fenster treten können, um den einzigen Mann zu treffen, dem sie gerne zugehört hätte, wenn er doch bloß
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