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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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und gibt uns was zu essen, wir gehen nämlich nicht schlafen. Wir essen erst, wenn Papa da ist!«
    Maione verzog das Gesicht.
    »Dann scheint euer Papa ja immer da zu sein, denn jedes Mal, wenn ich euch sehe, esst ihr gerade.«
    »Was will man machen, Brigadiere? Diese Kinder sind wie hungrige Wölfe. Von wem sie das nur haben, ich weiß es wirklich nicht. Warten Sie hier auf mich, ich rufe Concetta.«
     
    Da kommen sie. Beide sind gut zu erkennen, der dicke Brigadiere in Uniform und der andere, dünne, der Kommissar. Ich habe Concetta nach ihnen gefragt: Sie hat mir gesagt, was sie gestern wissen wollten.
    Merkwürdig eigentlich – ich dachte, dass sie uns sofort vernehmen würden, mich und die alte Leiche. Stattdessen sind sie wieder gegangen. Vielleicht wollten sie uns ein Weilchen schmoren lassen. Ich bin allerdings nicht weichgekocht, selbst in dieser höllischen Hitze. Schön brav hier auf der Terrasse geblieben bin ich, um mich um meine Pflanzen zu kümmern. Keine Bewegung, kein Wort, das ich nicht auch sonst gesprochen hätte.
    Nicht etwa, um keinen Verdacht zu erregen. Ich wollte bloß nicht, dass heute und gestern sich auf irgendeine Weise unterscheiden sollten. Es ist ja nichts geschehen. Geschieht vielleicht etwas, wenn eine Ratte in der Gosse krepiert? Geschieht etwas, wenn eine streunende Hündin von ein paar Bengeln mit Steinen erschlagen wird? Nein. Es geschieht nichts. Das Leben geht weiter wie zuvor, jeder an seinem Platz. Je größer das Gesamtbild, desto unwichtiger sind die Details. Und hier ist überhaupt nichts geschehen.
    Das heißt, überhaupt nichts ist falsch, um ehrlich zu sein: Ich habe den Ring wieder.
     
    Concetta erschien geräuschlos am oberen Ende der Treppe. Diese Frau, dachte Maione, vermochte es, von allen unbemerkt irgendwo aufzutauchen und wieder zu verschwinden. Dabei war sie so groß und dick.
    »Guten Tag, die Herren. Ich stehe zu Ihren Diensten.«
    Ricciardi starrte sie an, als sei er gerade erst aus einem Traum erwacht.
    »Guten Tag, Signora. Wir müssen mit dem Herzog und seinem Sohn sprechen, zuerst würde ich allerdings gerne kurz das Zimmer der Herzogin sehen. Können Sie uns hinführen?«
    »Selbstverständlich, Commissario. Es ist alles noch so, wie sie es zurückgelassen hat; wie Sie wissen, konnte sie sich nicht mehr rechtzeitig zurückziehen. Bitte, nach Ihnen.«
    Sie gingen durch das Vorzimmer. Sofort sah Ricciardi die Gestalt Adriana di Camparinos vor sich, wie sie, die toten Augen auf ihn gerichtet, ihren Satz aufsagte:
    »Der Ring, der Ring, du hast den Ring weggenommen.«
    Und wir werden ihn hoffentlich finden, dachte er.
    Sie folgten der still voranschreitenden Sivo durch viele aufeinanderfolgende Zimmer. Es roch sauber, und alles befand sich in tadelloser Ordnung, doch die Räume wirkten leblos. Sie passierten eine endlose Reihe von Salons, jeder mit einer andersfarbigen Tapete, und auch eine Kapelle, an deren Ende ein Altar mit einem scheinbar sehr alten Reliquienschrein thronte. Concetta hielt an, knickste und bekreuzigte sich rasch; Maione zog seinen Hut und senkte den Kopf; Ricciardi blieb stehen, um eine Bahre auf Rädern anzuschauen. Die Haushälterin, die seinem Blick gefolgt war, sagte:
    »Für den Herzog. Wenn der Priester kommt, um die Messe zu lesen.«
    Daraufhin führte sie die beiden in ein großzügiges Zimmer, in dessen Mitte ein großes, von einem Mückennetz umgebenes Himmelbett stand. Die vorherrschende Farbe im Raum war Altrosa, von den Seidenvorhängen über die großen Kissen bis hin zu den Bezügen des Sofas und der beiden in einer Ecke stehenden Sessel. Die Fenstertür ging auf einen Balkon zur Piazza hinaus.
    Auf den Gemälden und Fotografien im Zimmer war die schöne Herzogin in allen erdenklichen Posen zu bewundern: am Steuer eines Sportwagens, im Abendkleid, als Braut. Ein Bild an der Wand gegenüber dem Bett stach besonders hervor; es zeigte sie wunderschön und halbnackt, nur mit einem Leintuch bedeckt, das sie mit einerHand über der Brust festhielt. Die Frau war sich ihrer außerordentlichen Reize bewusst gewesen und hatte sie für ihre Zwecke eingesetzt.
    Ricciardi dachte an den Tod und daran, wie Adrianas Gestalt sich ihm dargestellt hatte. Solange sie lebte – das sah er an den Bildern im Zimmer –, war sie stets sehr auf ihr Äußeres bedacht gewesen: perfekt geschminkt und frisiert, die Kleider faltenlos. Ihr anderes, nur für ihn bestimmtes Bild, zeigte sie nicht nur mit durchlöcherter Stirn: Ihre Schminke war von

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