Der Sommer des Commisario Ricciardi
etwas sagen würde.
Eine halbe Stunde lang hatte Ricciardi zu dem dunklen Küchenfenster hinübergeschaut und gewartet. Nach und nach war seine Enttäuschung größer geworden, und er hatte begonnen, sich um Enricas Gesundheit zu sorgen, denn er war davon überzeugt, dass sie ihre Verabredung nur verpassen würde, wenn etwas Wichtiges, wie eine Krankheit, sie daran hinderte. Es schmerzte ihn, nichts Näheres zu wissen.
Als er gerade aufgeben und zu Bett gehen wollte, sah er aus den Augenwinkeln einen Lichtschein an der Ecke des gegenüberliegenden Hauses: Er kam von einer Lampe in einem anderen Zimmer der Wohnung der Colombos. Ein Teil von ihm erschrak bei dem Wunsch herauszufinden, wer dort war und was dort vor sich ging, in das Leben einer Familie einzufallen wie die übelste aller Klatschbasen; doch der andere Teil gewann sogleich die Oberhand.
Er rechtfertigte sich also damit, nur sicherstellen zu wollen, dass es Enrica gutgehe, rechnete rasch aus, von welchem Fenster seiner Wohnung man das erleuchtete Zimmer am besten sehen könne – und stellte bestürzt fest, dass es Rosas Schlafkammer war.
Rosa war bereit, sich schlafen zu legen; sie hatte ihren Rosenkranz zu Ende gebetet und alle Heiligen angerufen. Ihre Haare wurden von einer Haube auf ihrem Kopf ordentlich zusammengehalten, und sie trug ein langes, vom Hals bis zu den Füßen zugeknöpftes Nachthemd. Nun wollte sie sich gerade das Leintuch überziehen, als es an ihrer Tür klopfte.
»Wer ist da?«, fragte sie überflüssigerweise.
»Ich bin’s, wer sonst, wir wohnen hier schließlich nur zu zweit«, antwortete Ricciardi.
»Was ist passiert, geht’s Ihnen nicht gut?«
»Doch, doch, bestens, keine Sorge. Ich möchte nur etwas von deinem Fenster aus sehen. Darf ich reinkommen?«
»Bitte, komm nur.«
Rosa sah Ricciardi die Tür öffnen. Sie sah, wie er ihr einen schuldbewussten Blick zuwarf, sah ihn sich dem Fenster nähern, wobei er etwas über eine verdächtige Gestalt auf der Straße nuschelte. Sie sah ihn eine ganze Weile mit angehaltenem Atem dort stehen bleiben, während seine Hände die Fensterbank umklammerten; sah, wie er sich an der Wand festhielt, als sei er einer Ohnmacht nahe. Sie hörte ihn leise stöhnen. Sah, wie er sich umdrehte, totenbleich, und sich auf die Lippe biss. Schließlich sah sie ihn das Zimmer verlassen und nach einem dahingemurmelten »Ach, nichts, ich hab mich geirrt, gute Nacht« die Tür hinter sich zu ziehen.
Also schlug Rosa vorsichtig das Leintuch zur Seite, stand aus ihrem Bett auf und ging selbst zum Fenster. Von dort aus sah sie eine gewisse junge Frau ernst und würdevoll auf einem Sofa sitzen, so steif, als ob sie einen Besenverschluckt hätte, und an ihrer Seite einen gut gekleideten, lächelnden jungen Mann, der ihr etwas ins Ohr flüsterte.
Zuerst war sie beunruhigt. Dann allerdings sagte sie sich, dass Eis schneller taut, wenn man ein hübsches Feuer darunter anzündet.
Damit ging sie lächelnd zurück ins Bett.
XIV Das Portal des Herrenhauses war halb geschlossen, wie es bei Trauerfällen Sitte war. Auf dem geschlossenen Türflügel stand auf einem Schild zu lesen:
ZUR BEKANNTGABE DES TODES
DER HERZOGIN
ADRIANA MUSSO DI CAMPARINO
Sciarra, der Pförtner, fegte den Hof. Er versuchte, sich dabei auf der Schattenseite zu halten, die jedoch mittlerweile blitzblank war. Nach jedem Besenstrich musste er sich die Hemdsärmel wieder hochschieben, die ihm die Hände verdeckten. Neben ihm aßen die beiden Kinder vom letzten Mal zwei riesige Stücke Brot mit Käse. Als das Männlein Ricciardi und Maione erblickte, kam es in seinem typisch hüpfenden Gang auf sie zu.
»Commissario, Brigadiere, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«
Maione verlor keine Zeit mit Höflichkeiten, nicht zuletzt weil ihn der Anblick der beiden Kinder ärgerte, die sich ohne Unterlass den Bauch vollschlugen.
»Du brauchst uns nur nach drinnen zu begleiten. Wir möchten mit dem Herzog und seinem Sohn sprechen.«
Ricciardi schaltete sich ein:
»Zuerst möchte ich allerdings das Zimmer der Herzogin sehen. Ist die Haushälterin nicht da?«
»Doch, natürlich ist sie da, Commissario, ich rufe sie sofort.«
»Eines noch, Sciarra. Wo warst du an dem Abend, als es passierte?«
Der Pförtner sah ihn fragend an.
»Wo sollte ich schon gewesen sein? Bei uns oben, um auf diese zwei Teufel aufzupassen.«
Der ältere der beiden Teufel redete dazwischen, ohne mit dem Kauen aufzuhören.
»Papa kommt nach Hause
Weitere Kostenlose Bücher