Der Sommer des Commisario Ricciardi
öffnen Sie die Fensterläden ein klein wenig. Ich möchte sehen, wer mich besuchen kommt.«
Die Frau bewegte sich geräuschlos in der Dunkelheit, womit sie bewies, dass sie über die Anordnung von Möbeln und Gegenständen im Zimmer vollkommen im Bilde war, und öffnete das Fenster einen winzigen Spalt weit. Ein Lichtstreifen fiel ins Zimmer und beschien Ricciardi und Maione wie ein Scheinwerfer in der Nacht.
»Guten Morgen. Mein Name ist Ricciardi, ich bin Kriminalkommissar. Mein Begleiter hier ist Brigadiere Maione. Zunächst möchte ich Ihnen mein herzliches Beileid zum Tod Ihrer Gattin aussprechen.«
Der undeutliche Schatten hatte ein wenig Kontur angenommen. Auf dem Kissen lag ein Totenkopf mit eingefallenen Wangen und Augenhöhlen, der Schädel war kahl und glänzend; ein ausgezehrter Hals verschwand unter dem Leintuch, aus dem ein runzliger Arm hervorschaute. Die Hand glich der Klaue eines Raubvogels, gelbliche Finger bewegten sich langsam und unruhig.
»Nicht nötig. Eine Fremde ist gestorben, was soll mich das kümmern. Setzen Sie sich. Concetta, lass die Herren Platz nehmen.«
Die Stimme klang wie das Kratzen einer Feile auf Schmirgelpapier. Sie ließ ihre Zuhörer frösteln. Im Zimmer herrschte eine entsetzliche Hitze.
»Danke, bemühen Sie sich nicht, Signora. Wir bleiben nicht lange, nur ein paar Fragen, wenn es Sie nicht stört, Durchlaucht.«
Wieder bewegte sich die Hand sachte, wie um ihnen die Erlaubnis zu erteilen. Maione dachte, dass der Herzog sich im Laufe der Zeit wohl daran gewöhnt hatte, auf diese Art zu kommunizieren, per Handzeichen, um Kraft zu sparen. Ricciardi fuhr fort:
»Wann haben Sie die Herzogin zuletzt gesehen?«
Eine Weile blieb es still. Als Ricciardi schon annahm, der Herzog sei eingeschlafen, sagte die kratzige Stimme:
»Haben Sie je mit einem Toten gesprochen, Commissario?«
Ricciardi blieb der Atem weg, so unvermittelt traf ihn die Frage. Als ob der Herzog von seinem Sterbebett aus in der Lage gewesen wäre, durch die Dunkelheit direkt in seine Seele zu blicken.
»Wie meinen Sie das?«
Sein Tonfall war schroffer als beabsichtigt, doch der Herzog schien es nicht zu bemerken.
»Was ich meine, können Sie mit eigenen Augen sehen. Ich bin tot, Commissario. Nicht von heute spreche ich, auch nicht von der Zukunft, wenn sie mich wegtragen werden. Ich bin gestorben, als es mit meiner Frau zu Ende ging. Nicht Adriana. Mit meiner Ehefrau, meiner einzig wahren Frau.«
Ricciardi hatte mit einiger Mühe wieder begonnen, regelmäßig zu atmen. Eine Metapher. Es sollte nur eine Metapher sein.
»Warum sagen Sie das? Und, wenn Sie gestatten, was hat das mit meiner Frage zu tun?«
»Es hat damit zu tun, Commissario. Ein Mensch stirbt in dem Augenblick, in dem er niemandem mehr etwas bedeutet. Und das letzte Wesen, dem ich etwas bedeutet habe, war Carmen. Ich bin gestorben, als sie gestorben ist.«
Ricciardi wusste nicht, was er sagen sollte; also wartete er.
»Sie sprechen also gerade mit einem Toten. Ungewohnt, nicht?«
Nicht ganz, dachte Ricciardi. Der Herzog fuhr fort:
»Ein Toter verdient keine Aufmerksamkeit, keine Zuneigung. Es genügt, seine Mittel, sein Vermögen aufzubrauchen. Vielleicht bringt man ihm ab und an ein Blümchen. Die Frau, von der Sie sprechen, betrat diesen Raum das letzte Mal an Ostern. Sie kam lachend herein und riss die Fenster auf, es war kalt. Sie sah mich an und lachte, meiner Meinung nach war sie betrunken. Es ist Ostern, sagte sie, Jesus ist auferstanden, steh auch du auf. Dann steckte sie einen Blumenstrauß in eine Vase, dort, und ging hinaus. Wer weiß, von wem sie die hatte, die Blumen. An das Mal zuvor erinnere ich mich nicht mehr.«
Das Sprechen musste den Mann erhebliche Mühe kosten. Seine Sätze waren abgehackt, er musste alle drei bis vier Worte Luft holen. Maione wäre gern wieder gegangen: Die Hitze, der üble Geruch und das Missbehagen, das er beim Anhören des Herzogs empfand, waren ihm unerträglich. Ricciardi allerdings schien mit der Befragung fortfahren zu wollen.
»Wann haben Sie geheiratet?«
Maione und auch dem Herzog war klar, worauf die Frage abzielte: Der Altersunterschied der Ehegatten war groß; wie hatte er glauben können, dass es anders laufen würde? Der Alte kicherte hämisch, bis sein kurzes Lachen von einem starken Hustenanfall unterbrochen wurde. Concetta trat mit einem Taschentuch zum Bett und hielt es ihm vor den Mund.
»Sie war jung und ich schon alt. Sehen Sie, Commissario, das Alter spielt einem
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