Der Sommer des Commisario Ricciardi
manch üblen Streich. Ein Blick, ein Wort, ein Lächeln – und gleich fühlt man sich noch begehrt. Ich wusste, das heißt, mir war stets bewusst, dass Adriana auf den Status und das Geld aus war. Trotzdem habe ich sie geheiratet. Weil sie jung und schön war. Ich gab ihr, was sie wollte, und nahm mir, was sie zu geben hatte. Solange ich es konnte. Ein Tauschgeschäft. Nur ein Tauschgeschäft.«
In gewisser Weise berührte die Kälte dieser Argumentation Ricciardi stärker als die brüchige und röchelnde Stimme.
»Liebe gibt es nicht, Commissario. Liebe ist eine Illusion. Doch es gibt den Eigennutz, jeder will irgendetwas, das ein anderer hat. Wenn Sie glauben, dass Liebe etwas geben möchte, belügen Sie sich selbst.«
Ricciardi schloss die Augen halb und sah eine junge Frau auf einem Sofa den Versprechungen eines Mannes lauschen. Wenn das, was er empfand, wirklich Liebe war, hätte er sie gehen lassen müssen. Stattdessen hatte er das Gefühl zu sterben. Er spürte einen Stich im Magen.
»Und der Hass? Wozu treibt der Hass uns an? Wenn die Liebe als Illusion erlischt, was bleibt dann übrig?«
Maione scheuerte mit dem Fuß über den Boden. Concetta schien im Schatten zu einer Salzsäule erstarrt.
»Der Hass ist ein Gedanke, Commissario. Ein Ansuchen, vielleicht ein Wunsch. Wer Stunde für Stunde mit dem Sterben beschäftigt ist, wer das Bett nicht verlassen kann und auf die Barmherzigkeit seiner Pfleger angewiesen ist, der kann sich keinen Hass erlauben. Auch der Hass ist dann ein Luxus.«
Ricciardi dachte darüber nach, was der Herzog gesagt hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser sterbende Greis die Herzogin getötet hatte; doch der Mann war klar bei Verstand, er konnte Befehle und Anweisungen erteilen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Concetta, die kaum zu atmen schien.
»Sie haben einen Sohn, nicht wahr?«
Die Frage verhallte im Raum. Ricciardi hatte den Eindruck, dass auch das Röcheln des Herzogs nun anders klang. Nach kurzer Zeit antwortete der Mann.
»Ja, ich habe einen Sohn. Er heißt Ettore.«
Keinerlei Gemütsbewegung, kein Gefühl. Eine einfache unpersönliche Feststellung. Ricciardi wartete, doch der Herzog schien nichts anderes hinzufügen zu wollen und sagte schließlich:
»Und nun entschuldigen Sie mich bitte, Commissario, ich bin müde. Ich werde Sie wieder empfangen, wann immer Sie möchten, aber jetzt fordert Gevatter Tod meinen Schlaf.«
»Selbstverständlich, Durchlaucht, verzeihen Sie mir. Nur eine Sache noch: Trug Ihre Frau Ihres Wissens nach einen … besonderen Ring? Etwas Wertvolles, zum Beispiel mit einem seltenen Stein?«
Der Herzog hustete erneut und brauchte eine Weile, um wieder Atem und Kraft für seine Antwort zu schöpfen.
»Meine Frau, die richtige meine ich, also meine Carmen besaß einen Ring. Ein Familienerbstück mit unserem Wappen; der Ring, den alle Herzoginnen von Camparino trugen. Ich habe ihn von ihrer toten Hand abgezogen, hätte ich es bloß nie getan, ich bereue es jeden Augenblick meines Lebens … Und ich habe diesen Ring ihr gegeben, Adriana. Als ob sie es wert wäre, ihn zu tragen. Wenn Sie mit … ihr fertig sind, geben Sie ihn uns zurück: Meinem Sohn. Es ist das einzige, was ich von ihr zurückhaben möchte.«
Ricciardi hielt den Zeitpunkt nicht für angebracht, um dem Herzog mitzuteilen, dass der Ring der Thronräuberin bereits weggenommen worden war; und fürs Erste genügte ihm die kurze Beschreibung des Objekts. Er verabschiedete sich und ging, gefolgt von einem erleichterten Maione.
Livia verließ den Aufzug und betrat die Eingangshalle des Hotels. Sogleich kamen ihr ein Gepäckträger, ein Droschkenkutscher und ein Kellner entgegen, die einen Moment zuvor noch in der Hitze des ausklingenden Vormittags gedöst hatten. Zwei Männer, die bei einem Kaffee die Zeitung lasen, schauten zu ihr auf, der eine pfiff bewundernd.
Die Frau war wirklich wunderschön. Sie hatte über zwei Stunden damit verbracht, einige der zahllosen mitgebrachten Kleider immer wieder anzuprobieren, und letztendlich ein leichtes hellgraues Kostüm ausgewählt, zu dem sie schwarze Schuhe und eine schwarze Handtasche trug. Ihren Hut, der kokett leicht schräg auf ihrem dichten kurzen braunen Haar saß, zierte ein schwarzer Schleier, das einzige Zugeständnis an ihre Trauer. Sie selbst hätteauch das nicht für nötig befunden, aber sie wusste nicht, wie Ricciardi über diese Dinge dachte, und hatte zumindest ein Zeichen ihres Verlustes beibehalten
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