Der Sommer des Commisario Ricciardi
ihn beinahe verloren. In ihren Augen war Raffaele ein schöner, stattlicher, charmanter Mann. Da er außerdem ehrlich und rechtschaffen war, wäre eine Affäre für ihn gar nicht infrage gekommen; hätte er tatsächlich eine andere Frau kennengelernt, so hätte er sich von ihr getrennt. Sie hätte ihm nicht einmal böse sein können, denn im Grunde hatte sie ihn fallen lassen.
Nun war sie jedoch entschlossen, ihren Mann zu hegen und zu pflegen. Niemandem zu gestatten, ihn ihr wegzunehmen, auch Gott nicht. Sie gab die Zwiebeln zur Gemüsesuppe und stellte den Topf auf den Herd.
Rosa nahm den Topf vom Herd. Gerade war ein Wachmann da gewesen, um ihr Bescheid zu geben, dass Ricciardi nicht zu Hause essen würde.
Wo würde er wohl sonst essen? Und was? Bestimmt etwas, das seine Magenschmerzen noch verschlimmerte. Glaubte er vielleicht, sie habe nicht bemerkt, dass er sich seit drei Tagen andauernd den Bauch hielt? Besorgt schüttelte sie den Kopf. Sie war sicher, Luigi Alfredos Problem zu kennen: Es handelte sich um Fräulein Colombo, die Tochter des Hutmachers von gegenüber.
Heute Morgen hatte die Frau des Metzgers Rosa die Haare gemacht. Sie hatte ihr erzählt, wie sie genau an dem Tag, an dem Ricciardis merkwürdiges Benehmen seinen Anfang nahm, dringend herbeigerufen worden war, um Enrica zu frisieren, da die Familie Besuch erwartete.
Die Mutter hatte der Frau anvertraut, das Abendessen ohne Wissen der Tochter geplant zu haben. Sie machte sich nämlich große Sorgen, weil Enrica mit ihren fünfundzwanzig Jahren immer noch nicht verlobt war. Die Ausführungen der Friseurin waren sehr detailliert gewesen, sie hatte Rosa alles wortgetreu berichtet.
Kopfschüttelnd fragte diese sich nun, wie sie ihrem Jungen zu verstehen geben könnte, dass es für ihn an der Zeit war, die Initiative zu ergreifen, sein Leben in die Hand zu nehmen. Dass es keinen Sinn hatte, sich hinter einem Fenster zu verschanzen.
Müde nahm sie die Zwiebeln zur Hand und begann, sie für den nächsten Tag zu schneiden.
XXIX Als Ricciardi seine Bürotür hinter sich schloss, war es schon fast dunkel. Er war sehr müde. In seinem Kopf schwirrten die Einzelheiten des Mordfalls Camparino konfus und zusammenhanglos durcheinander, wieAsteroiden am Abendhimmel. Der weggenommene Ring, die Erdkrümel auf dem Teppich, die gebrochenen Rippen, der unversehrte Türriegel. Die Schlüssel in der Schublade, die abgebrochenen Fingernägel. Details, von denen jedes etwas bedeutete, die allerdings nur einen Sinn ergaben, wenn man sie zu einem Bild zusammensetzte, dessen Hauptfigur bekannt war.
Ricciardi spottete oft, wenn man ihm von Filmen oder Kriminalromanen erzählte, die seit einiger Zeit in Mode waren. Dort passte immer alles zusammen, der Kommissar fand bloß die Hinweise, die zur Ermittlung des Schuldigen führten.
Er hatte nichts fürs Kino übrig und las wenig: Wenn es um Verbrechen ging, war ihm Fiktion zuwider. Er glaubte, dass es auch so schon genug davon gab, man Gewalttaten nicht noch zu erfinden brauchte. Die Wirklichkeit war ohnehin ganz anders: Falsche Hinweise waren nicht von den nützlichen zu unterscheiden, bis alles sich zu einem Gesamtbild fügte.
Dermaßen in Gedanken versunken, schreckte Ricciardi auf, als er plötzlich von der Wache am Haupteingang angesprochen wurde:
»Guten Abend, Commissario. Hier ist eine Dame, die auf Sie wartet.«
Der Polizist trat zur Seite, um Livia vorbeizulassen.
Ihre Schönheit verschlug Ricciardi die Sprache. Sie trug eine breitgestreifte Seidenbluse und einen eng anliegenden, unterhalb der Knie leicht ausgestellten Rock. Dazu ein kokettes Glockenhütchen auf den kurzen Haaren, die den eleganten Hals frei ließen. Ihre langen Beine steckten in durchsichtigen Strümpfen mit schwarzer Naht und endeten in einem Paar Schuhe mit hohen Absätzen. Eine Bernsteinkette schmückte das großzügige und äußerst anziehende Dekolleté. Unter den schwarzen, ellbogenlangen Handschuhen waren schlanke Hände zu erahnen.
Livia schenkte dem wachhabenden Polizisten, der ganz offensichtlich von ihr geblendet war, ein strahlendes Lächeln.
»Vielen Dank, Herr Wachmann. Es war mir ein Vergnügen, bei Ihnen zu warten.«
Der Mann salutierte, ohne den Mund zu schließen. Ricciardi sah ihn schief an, wollte ihn aber nicht zurechtweisen. Stattdessen wandte er sich an Livia:
»Ich grüße Sie, Signora. Welchem Umstand verdanke ich die Ehre Ihres Besuchs? Haben Sie Informationen für uns?«
Livia spürte sogleich
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