Der Sommer des Commisario Ricciardi
Gesicht. Als er erneut die Hand hob und auch die anderen drei näher kamen, skandierte Ricciardi mit fester Stimme, als rezitiere er ein Gedicht:
»Ihr Narren, ihr seid doch bloß vier armselige Narren. Vier gegen einen, ihr solltet euch schämen, ihr Narren.«
Einer der vier stöhnte laut auf, als habe er einen Schlag in den Magen bekommen. Die Männer wichen zurück und sahen sich ratlos an. Einer ließ sogar seinen Stock fallen, drehte sich um und nahm Reißaus. Zwei weitere folgten ihm fast augenblicklich. Der Letzte, nämlich der, der den Kommissar geohrfeigt hatte, sagte:
»Nimm dich in Acht, Ricciardi. Gib Acht, wo du nachts herumläufst und welche Fragen du stellst. Wenn nicht, sind’s beim nächsten Mal keine Stöcke mehr, sondern Messer.«
Dann suchte auch er das Weite.
XXX Entgegen seinen Erwartungen hatte Ricciardi felsenfest geschlafen, vielleicht, weil ihm noch der Schlaf der letzten Nacht fehlte. Er hatte geträumt, erinnerte sich aber kaum daran: irgendetwas Verwirrendes, das mit Schuhen zu tun hatte. Wahrscheinlich die Stiefel der vier Unbekannten, dachte er am nächsten Morgen in seinem Büro.
Was am Vorabend geschehen war, erklärte vieles und schaffte gleichzeitig neue Unklarheiten. Er hatte sich vorgenommen, mit niemandem darüber zu sprechen, auch nicht mit Maione. Erst wollte er die Zusammenhänge prüfen, mit Sicherheit feststellen, was den Überfall ausgelösthatte. Es tat ihm leid, dass Livia in diese sonderbare Situation hineingeraten war. Sicher würde sie sein Leben nun noch seltsamer und schwieriger finden, was ihm aus irgendeinem Grund missfiel.
Er hatte keine Angst gehabt, nicht einmal, als der Mann ihn geohrfeigt hatte, denn er wusste, dass der ganze Auftritt nur eine Warnung sein sollte. Livias Anwesenheit hatte ihn allerdings verletzbar gemacht. Er hatte sich für ihre Unversehrtheit verantwortlich gefühlt, sich schützend vor sie gestellt, doch er kam nicht umhin, sich zu fragen, was er wohl empfunden hätte, wenn Enrica bei ihm gewesen wäre. Nach dem Vorfall hatte er Livia schweigend zurück zum Hotel gebracht, er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie hatte seinen Arm nicht losgelassen, ihn sanft gedrückt, als ob sie ihm und nicht er ihr Halt geben müsse. Zum Abschied hatte sie ihn geküsst, mit ihren Lippen seine leicht berührt. Er hatte den Kuss nicht erwidert, es aber geschehen lassen.
Maione schaute zur Tür herein, auch er war früh dran.
»Guten Morgen, Commissario. Wie geht’s Ihnen heute?«
»Wie immer. Es war sogar schon jemand vor mir da. Das hier lag auf meinem Schreibtisch: Die Erlaubnis zur Durchsuchung von Capeces Wohnung und zur Vernehmung der Familienangehörigen.«
Maione rieb sich die Hände.
»Oh, endlich lassen sie uns mal in Ruhe arbeiten. Wurde ja auch Zeit. Auch weil Capece bisher der Hauptverdächtige ist, hab ich recht?«
Ricciardi schaute immer noch aus dem Fenster, dieHände in den Hosentaschen. Eine leichte warme Brise bewegte sacht die Haarsträhne auf seiner Stirn.
»Ach, weißt du, das ist nicht gesagt. Es sind noch ein paar Dinge zu klären, die ich nicht ganz verstehe.«
»Sie denken an den jungen Herrn, nicht wahr? Nur – bei Capece sieht’s doch so aus: Die Pistole? Hat er. Ein Alibi? Hat er nicht. Ein Tatmotiv? Hat er. Entlastungszeugen? Keine. Finden Sie nicht auch, dass alles zusammenpasst?«
Der Kommissar machte eine vage Handbewegung.
»Mir macht genau das Angst: wenn alles zusammenpasst. Er hat die Herzogin doch geliebt, oder? Darin sind wir uns schon einmal einig. Und er schien mir wirklich verzweifelt zu sein, als wir mit ihm sprachen. Außerdem war er bei der Beerdigung: Normalerweise geht ein Mörder dieses Risiko nicht ein. Er könnte es gewesen sein, das streite ich nicht ab. Aber noch ist es nicht sicher. Gehen wir hin, um mehr zu erfahren.«
»Jawohl. Gehen wir jetzt sofort?«
»Nein, später. Zuerst muss ich noch etwas erledigen. Warte hier auf mich, in einer Stunde bin ich zurück.«
Maione nickte. Doch er war beunruhigt.
Livia hatte kein Auge zugetan. Nicht so sehr wegen des Schrecks – was sie überraschte, da tatsächlich Grund zur Angst bestanden hatte. Was sie wirklich schaudern ließ, war die Befürchtung gewesen, ihn zu verlieren.
Merkwürdig für eine Frau, deren Mann ermordet wurde, dachte sie. Und doch erinnerte sie sich nicht daran, jemals einen so heftigen Stich im Herzen gespürt zu haben, außer als der Arzt vor Jahren neben der Wiege ihres Kindes gestanden und betrübt
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