Der Sommer des Commisario Ricciardi
entgegenschlug, was sich insgesamt nicht schlecht anfühlte; wenigstens einmal gab es Leute, die gern mit ihm getauscht hätten.
Sie aßen frisch gefangenen Fisch aus der Gegend. Die Besitzerin, die gleichzeitig die Köchin war, erzählte ihnen von dem Fischer, der jede Nacht aufs Meer hinausfuhr, um allein ihr Restaurant zu beliefern, und davon, wie schwierig es war, immer etwas anderes zuzubereiten, je nachdem, was er gefangen hatte. Völlig ungeniert fragte sie Livia nach Ricciardi und dessen Beruf. Die antwortete, er sei ein Orchesterdirektor, wofür er dankbar war. Während seine bezaubernde Begleitung ihm lachend Anekdoten aus ihrem Berufsleben erzählte, versuchte er sogar, sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn sie recht gehabt hätte: wenn er zum Beispiel Violine oder Kontrabass spielen würde. Wenn sein Leben normal gewesen wäre, ein Leben als armer Schlucker und mit abgetragenen Schuhen, aber dafür ohne Schmerz und ohne dass ihn an jeder Straßenecke ein Toter ansprach.
Er selbst trug nicht viel zur Unterhaltung bei. Seine Geschichten taugten nicht dazu, bei Tisch erzählt zu werden. Allerdings hätte er nicht erwartet, dass er sich so wohl fühlen würde. Livias sanftes, melodisches Lachen stieg ihm zu Kopf, mehr noch als der frische Weißwein, den sie zum Fisch tranken.
Später belebten zwei Wandermusikanten die Stimmung im Lokal; virtuos spielten sie mit geschickter Hand Gitarre und Mandoline. Ihre Lieder weckten manch schlummerndes Herz, brachten alte Gefühle ans Licht. Die Besitzerin des Lokals bestand darauf, dass Livia singen sollte, die sich lange lachend dagegen wehrte. Dann gab sie schließlich nach und stimmte die erste Strophe von » O sole mio « an, ihre großen schwarzen Augen fest auf Ricciardi gerichtet. Livias Akzent klang gewiss nicht neapolitanisch und das Lied war eigentlich für einen männlichen Interpreten gedacht, doch ihre Altstimme war mindestens so warm wie die Meeresluft, und am Ende brach der ganze Saal in tosenden Applaus aus.
Als sie das Restaurant verließen, war es bereits nach Mitternacht. Die späte Stunde, der lange Tag, der Wein und all die neuen, unbekannten Empfindungen waren Ricciardi zu Kopf gestiegen. Nun beobachtete er sich von außen wie durch ein Fenster. Er wurde das dumme Gefühl nicht los, Enrica etwas Böses anzutun, aber gleichzeitig milderte Livia den Stich in seinem Magen. Wenn’s so sein soll, soll es eben sein, dachte er vage.
Livia war so glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Ricciardi aus seinem Schneckenhaus zu locken war wie nach Diamanten zu suchen: schwierig, doch im Erfolgsfall äußerst befriedigend. In seinem Blick hatte sie sogar hin und wieder ein neues Licht aufleuchten sehen. Sie war sich sicher, ihm zu gefallen, ahnte aber, dass es irgendein Hindernis gab, etwas, das ihn davon abhielt, sich ihr ganz zu öffnen. Listig hatte sie sich von seinem Leben, seiner Familie erzählen lassen. Es hatte sie darin bestätigt, dass es keine andere Frau gab, zumindest keine offizielle, doch ihre Intuition sagte ihr deutlich, dass der rätselhafte Kommissar jemanden im Herzen trug.
Was soll’s, hatte sie gedacht. Wenn der Platz besetzt war, konnte er auch wieder frei werden. Vielleicht genügte es, ein wenig nachzuhelfen.
Ricciardi begleitete sie zurück zum Hotel. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und genoss die Nacht, die sich über die Piazza del Plebiscito, die Säulen und die Statuen vergangener Könige gesenkt hatte. In der vollkommenen Stille hörte man nur ihre Absätze auf dem Kopfsteinpflaster klackern. Interessiert las sie die Inschrift über dem Kirchenportal. Ricciardi erklärte ihr, es handle sich um das ehemalige Gelübde eines Königs zum Ende der Pest in der Stadt, als sich in der Gasse, die auf den Platz mündete, plötzlich einige Schatten aus der Dunkelheit lösten.
Zuerst bemerkte Ricciardi, der noch zu der Inschrift aufsah, nichts davon. Er spürte nur, wie Livias Hand sich um seinen Oberarm zusammenzog, und drehte sich gerade rechtzeitig um, um die vier Gestalten zu sehen, die sie umkreisten. Ihre Gesichter waren nicht zu erkennen, dazu war es zu dunkel. Doch die Aufmerksamkeit des Kommissars richtete sich auf ihre dunklen, zerknitterten Kleider, ihre Stiefel und vor allem auf die Stöcke, die sie in der Hand hielten.
Livia entfuhr ein Schluchzer, woraufhin einer der Männer ihr mit groben Worten gebot zu schweigen. Ricciardibaute sich furchtlos vor ihm auf. Der Mann trat einen Schritt nach vorn und schlug ihm ins
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