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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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verhielt, als auch seine Mutter, der all die Jahre direkter und indirekter Demütigungen, die sie wegen ihm erlitten hatte, anscheinend immer noch nicht ausreichten. Er dachte bei sich, dass man entweder als Hammer oder als Amboss geboren wurde, und dass der Amboss glücklich war, geschlagen zu werden, weil seine Natur es ihm gebot.
    Er ging zu ihr und sagte leise, dass er eine halbe Stunde fort sein würde, um einem Freund ein Heft zu bringen. Die Frau nickte, ohne sich zu ihm umzudrehen, und starrte weiter den Rücken des Fremden an, der dort auf dem Balkon rauchte. Andrea verließ erleichtert den Raum, als sei er unfreiwillig Zeuge eines grausigen Ereignisses geworden.
    Er ließ das Eingangstor hinter sich und ging ohne Hast seines Weges. Zwar schaute er sich kurz um, doch bei dieser Hitze war niemand draußen außer einem wahrscheinlich betrunkenen Bettler, der auf der anderen Straßenseite im Schatten eines Baumes schlief. Nach wenigen Metern schlüpfte er durch eine kleine Holztür, die in ein Kellergeschoss führte. Es stank nach Feuchtigkeit und Fäulnis, doch er achtete nicht darauf. Unbeirrt trat er an die Mauer und zog einen Ziegelstein heraus, nahm das Päckchen aus Zeitungspapier, das dort lag, und öffnete es.
    Mama, dachte er, ich verstehe nicht, warum du ihn vor der Polizei in Schutz nimmst. Nach allem, was er getan hat, was er uns angetan hat. Doch genauso wenig verstehe ich, warum ich selbst zu helfen versucht habe.
    Als er die Pistole seines Vaters in die Hand nahm und den Finger an den Abzug hielt, sagte sich Andrea einmal mehr, dass die Liebe eine tödliche Krankheit war und er sich nie verlieben würde. Nicht für alles Geld der Welt.
     
    Nach dem beleidigten Abgang Mastrogiacomos tauchte Pivani die Feder wieder in die Tinte und strich die Notiz, die er sich zuvor gemacht hatte, sorgfältig und gewissenhaft durch. Ricciardi, der mit den Händen in den Taschen tief in seinen Stuhl gesunken war, ließ ihn nicht aus den Augen. Er wartete immer noch auf die Antwort seiner Frage: Was hatte Ettore Musso di Camparino bei ihm zu suchen, und wo war er in der Nacht, als seine Stiefmutter ermordet wurde?
    Pivani sah den Kommissar ruhig an.
    »Doktor Musso ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet; wussten Sie das, Commissario? Er gehört zu den angesehensten politischen Philosophen des Landes. Hinter seiner Scheu und Empfindsamkeit verbirgt sich ein messerscharfer Verstand, der bis in die höchsten Kreise der Regierung geschätzt wird. Er schreibt einen Großteil der Reden, die der Führer im Parlament und bei den wichtigsten Kulturverbänden hält.«
    Ricciardi schien nicht im Mindesten beeindruckt.
    »Also ist er für die hochtrabenden Worte verantwortlich, die wir im Radio hören. Aber das ist nicht das Vergehen, wegen dem ich ermittle.«
    Der Mann lächelte, er hatte den Witz verstanden.
    »Ich müsste Sie eigentlich ermahnen sich vorzusehen, Commissario, Sie daran erinnern, wo Sie hier sind und in welchen Zeiten wir uns befinden. Für einen Satz wie diesen könnte ich Sie in die Verbannung schicken. Nehmen Sie sich also in Acht. Da ich allerdings weiß, dass Sie kein Dissident sind, sondern nur einer der vielen, die sich nicht für das Schicksal unseres Landes interessieren, werde ich so tun, als hätte ich nichts gehört.«
    »Woher wollen Sie denn wissen, dass ich kein Dissident bin? Immerhin haben ihre Leute mich gestern angegriffen. Dabei war ich in Begleitung.«
    Pivani zuckte mit den Schultern und prüfte ein anderes Blatt auf seinem Schreibtisch.
    »Ich sagte Ihnen bereits, dass das gestern eine Dummheit war, und Sie haben gesehen, dass die Verantwortlichen teuer dafür bezahlen werden. Sehr teuer, um genau zu sein. Bitte überbringen Sie auch Signora Livia Lucani, verwitwete Vezzi, meine Entschuldigung; nebenbei bemerkt: Ich gratuliere Ihnen zu dieser Gesellschaft – eine wunderschöne und sehr kluge Frau, zudem eine vorzügliche Sängerin, wie ich hörte. Nein, Sie sind kein Dissident. Ich weiß alles über Sie, daher ist mir auch bekannt, was Sie denken, obwohl Sie mit niemandem darüber sprechen. Sie sind klug, wenn auch auf Ihre eigene, introvertierte Art; und wir alle brauchen kluge Menschen bei der Polizei. Leider gibt es dort nicht viele von Ihrer Sorte.«
    »Noch einmal, Pivani: Ich muss Sie daran erinnern, dass ich nicht hier bin, um etwas über mich zu erfahren. Es interessiert mich auch nicht besonders, wie Sie an Ihre Informationen herankommen. Ich möchte nur über Musso Bescheid

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