Der Sommer des Commisario Ricciardi
wissen, wo er war und warum. Und ich habe da so eine Ahnung, dass niemand mir die Frage besser beantworten kann als Sie.«
Pivani errötete plötzlich, wie ein auf frischer Tat ertappter Schuljunge. Er stand unvermittelt auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick zu Boden gerichtet. Ricciardi schien es, als ob das Zucken an seiner Schläfe sich beschleunigte.
»Als Erstes sage ich Ihnen eines, Ricciardi: Musso hat mit dem Verbrechen nichts zu tun. Daran besteht kein Zweifel. Er war es nicht. Aber ich sehe, dass mein Wort Ihnen nicht genügt. Sie werden immer weiter nachforschen, ohne jede Rücksicht. Ist es nicht so?«
»Sie wissen, dass es so ist. Und Sie wissen auch, dass ich, bevor ich hierherkam, um ausgerechnet Sie nach Musso zu fragen, ganz sicher wusste, dass Sie mir antworten können. Und mir auch antworten werden.«
Der Mann hielt in seinem Spaziergang inne und legte beide Handflächen auf die Tischplatte. Dabei sah er dem Kommissar in die Augen und knurrte:
»Es gibt noch eine zweite Möglichkeit, Ricciardi: Ich könnte Mastrogiacomo zurückrufen und ihm auftragen, sein Werk von neulich Nacht zu Ende zu bringen.«
Es folgte eine bedrückende Stille. Ricciardi schien die Option ernsthaft zu prüfen. Dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, Pivani. Das könnten Sie nicht. Ich erkläre Ihnen auch, warum: Mein Mitarbeiter, Brigadiere Maione, weiß, dass ich hier bin, auch wenn er den Grund nicht kennt. Wenn ich nicht zurückkehre, wird er mich suchen kommen. Und außerdem – bitte entschuldigen Sie meine Offenheit – scheinen Sie mir nicht der Typ dafür zu sein. Ich weiß nicht, ob Sie’s als Beleidigung oder als Kompliment auffassen, aber mir scheint es, als verabscheuten Sie jede Form von Gewalt.«
Nach langem überraschtem Schweigen schüttelte Pivani traurig den Kopf.
»Sie haben recht. Und auch ich hatte recht, als ich beim Lesen Ihrer Akte zu der Überzeugung gelangte, dass Sie klug sind. Ich weiß, dass Sie Maione nicht gesagt haben,wo Sie hingehen, weil Sie ihn damit in Gefahr gebracht hätten. Ich erkenne es auch daran, dass er Ihnen nicht gefolgt ist – das hätte ich umgehend erfahren. Aber es stimmt: Ich verabscheue Gewalt. Sie ist nicht das wahre Gesicht des Faschismus; doch je weiter wir auf unserem Weg voranschreiten, desto überzeugter sind leider die Menschen, dass es so ist.«
Ricciardi wartete:
»Sie werden mir nun also endlich antworten?«
Pivani ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
»Ja, das werde ich. Weil ich nicht zulassen kann, dass Sie ihn mit Schmutz bewerfen. Seinen Namen in den Dreck ziehen. Denn auch wenn er ihn leugnet, so ist sein Name das, woran er am meisten hängt. Ich könnte es nicht ertragen, ihn für etwas, das er nicht getan hat, ins Gefängnis gehen zu sehen, nur um mich zu schützen. Ich werde Ihnen also antworten. Weil ich ihn liebe.«
Draußen auf dem Balkon dachte Capece an Adriana und daran, wie sehr er sie liebte. Immer noch, auch wenn er sie nie wiedersehen würde. Er liebte sie in seiner Erinnerung, als ob er sie noch in den Armen halten würde, tanzte mit ihr einen langen, atemberaubenden und verzweifelten Tango. Es erschien ihm unmöglich, als Lebender zur Hölle verdammt zu sein, ohne Aussicht auf Frieden.
Fünfzehn Meter unter ihm sah er seinen Sohn Andrea das Haus verlassen und um eine Ecke verschwinden. Er war nun schon ein Mann. Vorhin, als die beiden Polizisten da waren, hatte Capece seinen hasserfüllten Blick gesehen. Mit kaltem, klugem Sarkasmus hatte Andrea RicciardisFrage beantwortet, ohne eine Antwort zu geben. Capece hatte einen schmerzhaften Stolz empfunden, oder vielleicht auch Angst. Sein Sohn würde ihm nie verzeihen, was er getan hatte. Und er selbst würde es sich auch nicht verzeihen.
Zum hundertsten Mal in der letzten Stunde fragte er sich, was er seiner Frau sagen sollte, wenn er wieder hineinging. Und was mit der Pistole geschehen war.
Im Zimmer war es dunkel geworden, mit Ausnahme des Lichtkegels der Schreibtischlampe, an dessen Rändern die beiden Männer sich gegenübersaßen. Durch die geschlossene Tür waren nur wenige gedämpfte Stimmen zu hören: Die Parteigenossen fragten sich, was wohl in jenem Heiligtum vor sich ging, das sie selbst nur ungern betraten und so schnell wie möglich wieder verließen. Pivani starrte ins Leere, in Erinnerungen versunken. Als er zu reden begann, sprach er leise und ausdruckslos.
»Wir lernten uns im San Carlo kennen.
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