Der Sommer des Kometen
mochte er jetzt sein? Ganz sicher hatte er Anne in diesem Unwetter nicht allein gelassen. Aufgeregt zog sie den Wirt beiseite.
«Gib mir dein Pferd, Jakobsen», flüsterte sie, «ich muss sofort nach Harvestehude. Bitte, du bekommst es heil zurück.»
Er nickte und eilte ihr voraus in den Stall hinter der Schenke. Das Gewitter war weitergezogen, und der Regen machte gerade eine Pause, aber es war innerhalb der letzten beiden Stunden kalt wie im April geworden. Jakobsens Pferd schnaubte unwillig, als er den Riemen um den ausladenden Bauch des Tieres festzurrte. Es war gewöhnt, schwere Fuhren zu ziehen, einen Sattel hatte es schon lange nicht mehr gespürt. «Sei vorsichtig, Rosina», rief Jakobsen ihr nach, «die Braune kennt dich nicht, und manchmal ist sie störrisch.»
Aber Rosina war schon aus dem Hof geritten und trabte durch die matschige Fuhlentwiete nach Norden zum Dammtor.
«Und an so einem verrückten Abend», sagte er darum zu sich selbst, «weiß man nie, was einem vor den Wällen begegnet. Und wer – vor allem, wer.»
Dienstag, den 17. Junius,
abends
Claes Herrmanns hatte Mühe, seine aufgeregte Stute in den Stall zu bugsieren. Es kam ihm wie ein Wunder vor, dass er zwar nass bis auf die Haut, aber ohne von den Blitzen erwischt worden zu sein und mit heilen Knochen den Hof seines Hauses in Harvestehude erreicht hatte. Der Donner krachte zum letzten Mal, als er die Tür aufstieß und in die Diele trat. «Anne», rief er. Aber sie kam nicht, und die unsinnige Angst, er werde sie nie wiedersehen, krallte sich in sein Herz.
Dann stand sie plötzlich in der Diele, und er fühlte ihre Arme, ihren warmen Körper, hörte ihre zärtlich schimpfende Stimme, wie könne er nur so verrückt sein, in diesem Wetter herzureiten, das vertraute Durcheinander von aufgeregten englischen und französischen Worten, und wusste, alles wurde gut. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, sah die Tränen, die sich mit dem Regen vermischten, der von den Haaren herab und über sein Gesicht lief, und hielt ihn ganz fest. Sie wusste nicht, was geschehen, aber sie wusste, bei wem er gewesen war. Sie hatte Angst vor dieser Frau, dieser großen Liebe aus einer Zeit, als das Leben noch alles versprochen und die nicht sie, sondern diese andere Frau mit ihm geteilt hatte. Aber dann war Elsbeth da, praktisch und flink, und eine halbe Stunde später saß Claes im Salon, von Kopf bis Fuß eingehüllt in heiße Wickel, Blohm brachte Glut für den Kamin aus der Küche, legte trockene Birkenscheite auf und blies so lange, bis er hustete und das Feuer zu knistern begann. Elsbeth scheuchte derweil Benni aus der Küche in den Stall, damit er die Stute trockenrieb und beruhigte.
Gehorsam leerte Claes den Becher mit dampfendem, honigsüßem Salbeitee, den Elsbeth ihm in die Hand gedrückt hatte. Er sah über den Rand des Bechers Annes Gesicht, fühlte, wie die Liebe in ihren Augen ihn ruhig werden ließ, und dann erzählte er ihr alles.
Er sprach lange, diesmal ließ er nichts aus, auch nicht, was ihn tatsächlich mit Gunda verband, warum er sie so schnell vergessen und Maria geliebt hatte. Er suchte in den tiefen Falten der Vergangenheit nach jeder Einzelheit, suchte Gründe und Entschuldigungen und fand immer wieder neue Schuld. Anne hörte still zu, versuchte ihm in diese längst vergangenen Jahre zu folgen, versuchte den jungen Mann, der er einmal gewesen war, zu verstehen. Sie sah ihn vor sich, aber er blieb ihr fremd. Und je mehr er erzählte, um so ferner wurde er ihr.
Als sie Claes vor fast zwei Jahren auf ihrer Insel kennenlernte, traf sie einen freundlichen, auch klugen, aber doch recht steifen Deutschen, der viele Monate brauchte, bis er begriff, dass sie einander liebten. Sie musste ihm erst nach Hamburg nachreisen und ihn über seinen eigenen Schatten schubsen, sonst hätte er sich nie getraut, diese Liebe auch zu fühlen. War das der gleiche Mann, dessen Leidenschaft einst alle Grenzen von Sitte und Moral übersprungen hatte? Der die eine nahm und nach einem halben Jahr eine andere liebte? Wie lange würde er sie lieben?
«Anne? Warum sagst du nichts? Kannst du mir nicht verzeihen?»
«Habe ich dir etwas zu verzeihen?»
Er sah sie ratlos an. Er hatte Trost und Absolution erhofft. Aber ihre Stimme klang kühl und fremd.
«Warum hast du mir nach eurem ersten Treffen erzählt, dass ihr einander nur flüchtig kanntet? Warum hast du mir nicht vertraut, sondern mich belogen? Habe ich dir nur das zu verzeihen?»
Sie sah ihn an,
Weitere Kostenlose Bücher