Der Sommer des Kometen
wiedersah. Der März ging schon zu Ende, der Wind im ersten zarten Grün verwandelte die Zweige der Trauerweiden am Strom in fließendes Nixenhaar. Huflattich und Schlüsselblumen blühten an den Bächen, und die alles verhüllenden Schals blieben in den Schränken. Nicht, dass er seit jenem Februartag vor Sehnsucht keinen Schlaf mehr gefunden hatte, aber das feine, vom kalten Wind gerötete Gesicht, die gewölbten Brauen über den lachenden Augen, die ganze, über das Eis davongleitende anmutige Gestalt hatten sich ihm tief eingeprägt, ebenso wie dieses Gefühl, das er in dem kurzen Moment empfunden hatte, als er sie in den Armen hielt.
An einem jener milden Märztage ritt er mit dem jüngeren Matthew gerade durch das Nobistor nach Altona hinein, als der die Zügel anzog und vom Pferd sprang. Er begrüßte einen hageren, schwarz gekleideten älteren Mann, der mit seiner Familie gerade aus der Großen Freiheit, in der die Katholischen und die Mennoniten ihre Gotteshäuser hatten, in die Reichenstraße eingebogen war. So wurde Christian ihrer Familie vorgestellt, sie verriet mit keinem Blick und mit keinem Wort, dass sie sich an ihn erinnerte, und später erfuhr er, dass sie große Sorge gehabt hatte, er könne sie vor ihren Eltern danach fragen. Das Schlittschuhlaufen war nämlich nur ihren Brüdern erlaubt, und ihr Verstoß gegen das strikte Gebot hätte unangenehme Folgen gehabt.
Jeremy Matthew kannte ihren Vater, der mit seiner Londoner Familie Geschäfte gemacht hatte. Er war ein ehemaliger Kapitän, Josua Stedemühlen, der viele Jahre in Bristol, der großen Hafenstadt an der englischen Westküste, gelebt und sich erst vor zwei Jahren in Altona niedergelassen hatte. Ein streng wirkender Mann, um viele Jahre älter als seine Frau, die allerdings nur wenig milder erschien.
Von da an traf er Lucia häufiger. Matthew nahm ihn mit zum Tee in das schlichte, aber eindeutig reiche Haus der Stedemühlens an der Palmaille, und er wurde dort zurückhaltend, doch freundlich empfangen. Besonders Madame Stedemühlen, die sich zuerst so spröde gezeigt hatte, kam ihm bald mit besonders großer Freundlichkeit entgegen. Allerdings ahnte sie nicht, dass er Lucia keineswegs nur in ihrem Salon, sondern auch an den warmen Sonntagnachmittagen im Mai in den Gärten hinter der Admiralitätsweide traf.
Christian leerte sein Glas, die Bowle war längst schal geworden, und schwieg.
«In den Gärten», sagte Claes aufmunternd. Christians Geschichte hatte ihn seltsam berührt. Sie erinnerte ihn an eine vergessen geglaubte Liebe, die kurz, äußerst innig und doch bitter gewesen war. Aber das war lange her, er war damals kaum älter gewesen als sein Sohn, und die heutigen Sitten, dazu zählten auch Verbindungen über die Grenzen der Religionen hinweg, waren längst nicht mehr so streng wie in seiner Jugend.
«Ja», fuhr Christian fort, und es klang ein wenig trotzig. «In den Gärten. Es sind wunderschöne Gärten, weißt du? Ganz natürlich, um nicht zu sagen, ein wenig wild, aber voller Duft und Farben. Sie liegen schon auf Hamburger Gebiet, doch weit vor den Wällen, wir fühlten uns dort sehr frei.»
«Wie frei?»
«Ach, Vater! Nicht, was du denkst. Wieso denkst du so etwas überhaupt immer? Wir waren nie allein, fast nie jedenfalls, und ich würde es nie wagen, zu weit zu gehen. Aber ihre Eltern haben gedacht, dass sie diese Nachmittage mit ihrer Freundin Marianne verbringt. Sie hüten ihre Tochter wie das kaiserliche Siegel und hätten ihr nie erlaubt, an unseren vergnügten, sie würden sagen: leichtfertigen Nachmittagen teilzuhaben.»
«Und nun haben sie es herausbekommen, ein Donnerwetter gehalten und ihr diese Nachmittage verboten», fuhr Claes fort. Allmählich begann ihn der Hunger zu quälen.
«Schlimmer», murmelte Christian verzagt, «viel schlimmer. Ich darf sie nie, niemals mehr treffen. Und das Haus der Stedemühlens ist mir für immer verschlossen. Bis in Gottes Ewigkeit, hat sie gesagt.»
«Wer?»
«Madame Stedemühlen. Sie ist schrecklich fromm.»
Das Unglück in Gestalt von Lucias zürnender Mutter hatte Christian allerdings nicht in jenem wilden, wohlduftenden Garten, sondern in der ordentlichen Diele des Stedemühlen’schen Hauses getroffen. Er war immer nur als Jeremy Matthews Begleiter dort gewesen, aber an diesem Tag, vorgestern, um es genau zu sagen, wurde Jeremy aufgehalten und hatte den Freund gebeten, vorauszureiten und seine Verspätung zu entschuldigen. Lucia kam gerade die Treppe herunter, als
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